Alice in Wonderland. Unsuk Chin.
Oper.
Stephan Zilias, Elisabeth Stöppler, Valentin Köhler. Theater an der Wien, Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 20. November 2025.
> Die 64-jährige, heute in Berlin lebende südkoreanische Komponistin Unsuk Chin hat "Alice im Wunderland" zu einer dreistündigen Oper umgestaltet. Mit David Henry Whang schrieb sie das Libretto, und mit Lloyd Moore erstellte sie eine reduzierte Orchesterfassung. In dieser Form kommt nun Lewis Carolls Roman zur österreichischen Erstaufführung. Das Ergebnis ist hörens-, aber nicht sehenswert. <
Alice wurde es langsam sehr langweilig, neben ihrer Schwester am Ufer zu sitzen und nichts zu tun zu haben: Ein- oder zweimal hatte sie einen Blick in das Buch geworfen, das ihre Schwester las, aber es enthielt weder Bilder noch Dialoge, "und was nützt ein Buch", dachte Alice, "ohne Bilder und Dialoge?"
Mit diesen Sätzen beginnt Lewis Carrolls "Alice im Wunderland". Der Erzähler schildert die Ereignisse. Er teilt mit, was Alice denkt und fühlt:
Der Kaninchenbau verlief eine Zeitlang gerade wie ein Tunnel, dann fiel er plötzlich so steil ab, dass Alice keine Zeit hatte, daran zu denken, sich festzuhalten, bevor sie sich in einen sehr tiefen Schacht fallen fühlte.
Die Vermittlung der Ereignisse durch den Erzähler fehlt bei Unsuk Chins Oper. Die Bühne beschränkt sich darauf zu zeigen, was passiert. Sie verrät keine unausgesprochenen Gedanken. Das Ironisieren, Kommentieren, Erklären, Einordnen unterbleibt. Und solange jemand im Scheinwerferlicht steht, lässt sich der Lauf der Zeit weder verlangsamen noch beschleunigen. So bringt die Veroperung von "Alice im Wunderland" einen Dimensionsverlust gegenüber dem Buch.
Verschärfend kommt hinzu, dass die Sängerkörper im physikalischen Raum mit ihrer Schwere und Unbeholfenheit das Spiel auf gutgemeinte, aber wirkungsschwache Bühnenaktivität reduzieren. Sie verjagt jeden Hauch von Traum, Poesie und Wunder. An der Rampe erscheint bloss die Beflissenheit der Mitwirkenden, nicht aber die andere Welt "hinter dem Spiegel".
An den Randplätzen der Parkettreihen 4 und 5 hören die Kritiker nach kurzer Zeit auf zu schreiben. Die Vorstellung bietet zu wenig Bemerkenswertes. Die Drehbühne dreht und dreht. Episode folgt auf Episode. Kostümierte Menschen hantieren mit Requisiten herum. Die Kritiker schliessen die Augen. Jetzt schlafen sie ein. Was werden sie wohl über die Inszenierung von Elisabeth Stöppler und das Bühnenbild von Valentin Köhler publizieren? Vermutlich etwas Nettes. Dann gibt's keinen Ärger.
Das Aufregende bei "Alice in Wonderland" passiert in der Komposition. Die Partitur ist klangschön, dicht und evokativ. Sie führt den Krönungsakt von Mussorgskis "Boris Godunow" und die Verwandlungsmusik von Wagners "Parsifal" in die gemässigte Atonalität des 20. Jahrhunderts weiter und steigert sie durch eine Orchestrierung von ravelschem Raffinement. Unter der Leitung von Stephan Zilias realisiert das ORF Radio-Symphonieorchester die Klangpalette mit Akkuratesse, und das Schlagwerk bietet das Nonplusultra.
Die Sänger sind allesamt beachtlich. Gefeiert wird, zu recht, Alfeidur Erla Gudmundsdottir als Alice. Und die Gumpoldskirchner Spatzen (Leitung Katja Kalmar) sind, wie Lewis Caroll sagen würde, zum Küssen. (Edith Oliver: "He wanted to make a fresh 'child friend' and invited the child to tea.") Wer die Augen schliesst, ohne einzuschlafen, erlebt im Theater an der Wien ein beglückendes Klangwunder.
Die böse Königin.
Henker, Häftling, Hase.
Das arbeitende Volk.
