Das Tagebuch der Anne Frank. Grigori Frid.
Kammeroper.
Francis Benichu, Isabelle Freymond, Verena Hemmerlein, Wim Wermuth. Theater Orchester Biel Solothurn.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 1. November 2025.
> Eine Sternstunde des Musiktheaters. Die Planeten haben sich vereinigt, um gerade an diesem Abend, in diesem Haus, eine Produktion steigen zu lassen, die an keinem anderen Ort der Welt anrührender, schöner und intensiver hätte ausfallen können. Alle Elemente wirken zusammen: Die Sätze des Tagebuchs, das Licht der Scheinwerfer, der Klang der Instrumente, der Ausdruck der Komposition und die Persönlichkeit der Sängerin. Miteinander schaffen sie eine Aufführung, in der Wirklichkeit und Kunst, Schönheit und Trauer, Vergangenheit und Gegenwart dergestalt ineinanderwachsen, dass der Eindruck entsteht, Anne Frank spreche an diesem Abend, in diesem Haus ... gerade zu uns. <
Das Licht stammt von Wim Wermuth. Zusammen mit der Musik von Grigori Frid umspielt es als klug bewegte kubistische Komposition Anne Franks Situation, Gestalt und Geschichte. Für den Abschnitt, welchen die junge Frau zwischen 13 und 15 Jahren im Tagebuch festgehalten hat, lassen die Scheinwerfer tausend Facetten aufdämmern, aufglänzen, aufstrahlen. Mal stellen sie das Gesicht der Heranwachsenden in dramatische Profilschatten, mal rücken sie es durch die Flächigkeit mittelalterlicher Andachtsbilder in eine jenseitige, selbstversunkene Ferne.
Zum gewaltigen Eindruck trägt das fein getaktete Spiel mit dem Raum bei. Verena Hemmerlein stellt Teppich, Schrank, Bett, Sessel auf die Vorbühne. Damit kommt uns das Geschehen zum Greifen nahe. Wenn die Musik schweigt, vernehmen wir Anne Franks Atem. Wenn sie sich bewegt, hören wir das Plitschen ihrer nackten Füsse.
Die Umbauten bilden aufregende Ereignisse: Das Licht erlischt, und schwarze Gestalten, verkörpert durch Mitglieder des Jungen Theaters Biel JTB, bringen mit flüssigen Bewegungen Requisiten auf die Bühne, schaffen dadurch neue Verhältnisse und evozieren mit dem Raumwandel die unheimliche Dynamik der Geschichte, der Anne Frank im KZ Bergen-Belsen mit 15 Jahren zum Opfer fallen wird.
In einem kleinen, runden Lichtfleck verdämmert am Ende der Aufführung ein Paar eleganter, weisser Stöckelschuhe. Sie stehen für die Hinterlassenschaften der Ermordeten an den Güterrampen der Vergasungsanstalten und für den Aschenbrödel-Traum vom Prinzen, nach dem sich Anne Frank vergebens gesehnt hat. Der Antisemitismus hat sie um ihr Leben betrogen.
Geführt von Isabelle Freymonds sensibler Regie bewegt sich die Sängerin Anna Beatriz Gomes durch die Abschnitte, von denen das Tagebuch Kunde gibt. Sie kauert am Boden. Sie steigt auf eine Leiter. Sie räkelt sich im Sessel. Sie beugt sich übers Mittelwellenradio. Sie zieht die Knie an sich.
Im Monolog des Tagenbuchschreibens vollzieht sich Anne Franks Dasein in der Innerlichkeit. Ihr Kern kommt in der hellen, klaren, untadelig geführten, nuancenreichen Stimme der Darstellerin zum Ausdruck. Die Spanne reicht vom gehauchten Flüstern über den dramatischen Sprechgesang bis hinauf zum Jubel kurzbemessener Seligkeit.
Das Sinfonie Orchester Biel Solothurn realisiert unter der Leitung von Francis Benichou die Partitur mit Sorgfalt, Schönheit und Zartheit. Der Klang ist geprägt vom perkussiven Stil der Zeit. Er vereint Energie mit Gewalt, wie es den Regimes in Ost und West entsprach. Doch in Biel/Solothurn entziehen sich die solistisch geführten Instrumentalstimmen immer wieder dem harten Takt, und in der weichen Kantabilität ihrer Linien verwirklichen sie ein anrührend menschliches Mass.
Grigori Frid komponierte die Partitur zu Anne Franks Tagebuch im Stil der sogenannten entarteten Kunst. Die Musik, welche die junge Frau umfliesst, war vom Reich verfemt. Damit passt der damals unterdrückte Klang zum Schicksal der sieben bedrohten Juden im Hinterhaus.
In dieser vergangenen Welt begegnen wir Verhältnissen, die wir überwunden glaubten und die uns seit kurzem wieder auf unheimliche Weise naherücken. Damit ist "Das Tagebuch der Anne Frank" mehr als ein Kunstereignis, mehr als eine Sternstunde des Musiktheaters. Es ist ein Menetekel. Leider.
Tagebuchverfasserin.
Wütende.
Nachdenkliche.
