Antigone. Pascal Dusapin.
Operatorium.
Klaus Mäkelä, Netia Jones. Orchestre de Paris in der Philharmonie de Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. Oktober 2025.
> "Antigone" ist eine Auftragsarbeit der Philharmonie de Paris und der Dresdner Philharmonie. Der Komponist Pascal Dusapin nennt die halbszenische Mischform für grosses Orchester und sieben Sänger ein Operatorium. Der Text stammt aus Friedrich Hölderlins Übersetzung der sophokleischen Tragödie. Doch da man die Sänger an der Pariser Uraufführung nicht versteht, liegt das Hauptgewicht des Ereignisses nicht im Wort, sondern im musikalischen Fluss. <
442 v. Chr. wurde die antike Tragödie an den grossen Dionysien von Athen zum ersten Mal aufgeführt. Das Schauspiel setzt ein, nachdem sich Antigones Brüder vor den Toren Thebens im Zweikampf umgebracht haben. Damit steht die Handlung unter dem Zeichen von Hass, Blut und Verhängnis. Antigone erhängt sich. Der Verlobte gibt sich mit dem Schwert den Tod. Dessen Mutter verflucht ihren Gatten, nennt ihn einen Sohnesmörder und erdolcht sich.
Das alles passiert hinter der Szene. Es wird rapportiert. Komponist Pascal Dusapin verwendet dafür sieben Sänger. Für den Chor eine "haute-contre" (Serge Kakudji). Die historische Stimmlage (hoher Tenor) war vor allem in der französischen Barockoper verbreitet. Antigone wird gesungen von einem reichen, dunklen Mezzosopran. Christel Loetzsch gibt die Rolle aufrecht, selbstbewusst und engagiert. Sie trägt schlichtes Schwarz und erscheint in der szenischen Einrichtung von Netia Jones vor der weissen Quaderarchitektur der Burg zusammen mit den anderen Figuren wie ein Schattenriss, passend zur Epoche Hölderlins: "Sehr charakteristisch für die Geniezeit ist ihre Leidenschaft für die Silhouette", vermerkt Egon Friedell in seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit". – Antigones Schwester Ismene, unscheinbar, angepasst, besorgt, ist ein Sopran: Anna Prohaska. Ihre lichte Stimme kontrastiert zum dunklen Bass der Darsteller von Kreon (Tomas Tomasson) und Tireisias (Edwin Crossley-Mercer). Auch Haimons Tenor (Thomas Atkins) ist dunkel eingefärbt.
Das Geschick der Herrscherfamilie betrachtet Pascal Dusapin mit heutigen Augen:
Das Drama von Antigone entsteht aus dem Konflikt zwischen dem Gebot des individuellen Gewissens und dem des Gemeinwohls. Wie immer in der Mythologie verfolgen uns diese Fluchtlinien und rufen vielfältige Interpretationen hervor, und in ihrer wahnsinnigen Wiederholung scheint uns die Geschichte laufend dasselbe zu erzählen ... "Antigone" ist die Tragödie par excellence, immer wieder kommentiert, inszeniert, umgeschrieben, dekonstruiert. Abwechselnd heroisch oder furchterregend, über alle Massen mutig oder einfach unerträglich, durchquert Antigone die Geschichte der Menschheit über Kontinente und Kulturen hinweg.
Die Handlung des Operatoriums wird – wie im antiken Drama – von Einzelstimmen vorgetragen. Sie bewegen sich in einer Mischung von Rezitativ und Sprechgesang auf Tonwellen von geringen Ausschlägen. Der Charakter der Komposition ist elegisch. Langgedehnte Unisonoklänge wandern durch die Register des 75-köpfigen Orchestre de Paris. Dazwischen blühen Flöte, Oboe, Harfe und Schlagwerk auf. Unter dem Stab von Klaus Mäkelä ist der Klang hell, luftig, durchhörbar. Mit Fluidität umspielt das Orchester das harte Schicksal der Atriden und erzeugt eine träumerisch-versonnene Aufnahmebereitschaft, mit der das Publikum durchlässig wird für eine Ansprache jenseits der Wörter.