Die Performer als Influencer. © Annette Boutellier.

 

 

#lookoftheday. Ensemble.

Ein globales Rechercheprojekt in Kooperation mit dem Magazin "Reportagen".

Schauspiel.

Gernot Grünewald, Michael Köpke, Daniel Sapir, Monja Lalotra. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 4. Mai 2025.

 

> Das Stück zum Kleiderproblem IRL. Bekanntlich steht die Schweiz, was die Anschaffung neuer Kleider angeht, weltweit auf Platz 2. Das führt zu einer Reihe von Fragen: (a) Woher kommt der Stoff? (b) Wie wird er verarbeitet? (c) Wer bringt ihn in Umlauf? (d) Wer kauft ihn (e) aus welchen Gründen? (f) Was passiert mit den nicht länger getragenen Kleidungsstücken? – Daraus ergeben sich die Themen (g) Ausbeutung, (h) Kapitalismus, (i) Kolonialismus, (j) Sklaverei, (k) Umweltverschmutzung, (l) ungerechte Verhältnisse zulasten des globalen Südens ... und damit (m) die Verflechtung der Schweiz und (n) des einzelnen Konsumenten in ein hochproblematisches "System". Dass das alles nicht nur im Medium der Zeitschrift und der Fernsehdoku erläutert wird, sondern auch im Theater, ist vollkommen okay. Aber der Betroffenheitsinhalt steht auf den Brettern in Konkurrenz zu ganz anders gestalteten Stoffen. Und da zeigt sich, dass Reporter, Journalisten und Schauspieler gegenüber wahren Schriftstellern und Theaterautoren nicht so gut abschneiden. Es fehlt ihnen hauptsächlich am Gefühl für die strenge Form. Darum wirkt der Stoffkreislauf in der durch Zahlen und Fakten herbeizitierten Realität weniger unerbittlich als die Schicksale der fiktionalen Personen in der Dramenliteratur. Anders gesagt: Die Aufführung ist zwar vollkommen okay, aber, tbh, nicht wirklich packend. Sorry. <

 

Das Schauspiel der Bühnen Bern geht bei seinem "globalen Rechercheprojekt in Kooperation mit dem Magazin 'Reportagen' " auf Vollständigkeit aus – geographisch, ethisch, soziologisch, wirtschaftsgeschichtlich. Damit wird die Aufführung – sie dauert 110 Minuten – eine halbe Stunde zu lang. Das Ensemble ignorierte die Empfehlung von Hans Christian Andersens Märchenprinzen aus der "Schneekönigin": "Man soll nicht alles sagen, was man weiss."

 

In "#lookoftheday" bewegt sich die Aufführung zwischen Input und Illustration. Input bedeutet: Erfassung der Welt, beziehungsweise des Problems, durch Zahlen.

 

Als Schweizer Konsument*innen werfen wir statistisch jedes Jahr über 100 000 Tonnen Kleider weg, von denen nur die Hälfte [d.h. 50 %] gespendet, weiterverkauft oder recycelt wird.

 

Weniger als 0,5 % unserer ausrangierten Textilien können recycelt werden, weil die meisten aus billigen Textilmischungen bestehen.

 

In Ghana landen jede Woche 15 Millionen unserer gebrauchten Kleidungsstücke.

 

Ungefähr die Hälfte davon [also circa 50 %] sind von so schlechter Qualität, dass sie für die Menschen wertlos sind und direkt auf einer Mülldeponie landen.

 

Allein in Ghana landen also jede Woche 6 Millionen Kleidungsstücke auf dem Müll.

(Quelle: Programmzettel)

 

Der Input – gewiss beeindruckend, ja alarmierend – hebt durch die vielen Zahlen, welche die Fakten erhärten sollen, die Wirklichkeit von den Zuschauern weg auf die unanschauliche Ebene der Statistik. Und hier liegt, dramaturgisch gesehen, der Denkfehler: "Als ob es ausreiche, messen zu können, um zu verstehen", seufzte Jeanne Hersch. (Comme s'il suffisait de pouvoir mesurer pour comprendre.)

 

Und Nietzsche schrieb, dem aufziehenden 20. Jahrhundert entgegen:

 

Dass allein eine Welt-Interpretation im Rechte sei, die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehn und Greifen und nichts weiter zulässt, das ist eine Plumpheit und Naivität, gesetzt, dass es keine Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist.

 

Bei der zahlenlastigen Reportage in Bern wird nicht benannt, und damit nicht fassbar, welche Mentalität das Rad in Schwung hält. Die 100 000 000 Kilo Stoff, die jährlich von den Schweizer Konsument*innen entsorgt werden, stammen unter anderem von den 31 Millionen Schweizer*innen, die jährlich in Kloten ein- und auschecken, neben den geschätzten 50 Millionen, die in Genf, Basel und Lugano dazukommen.

 

Von diesen Schweizer Konsument*innen sitzt ein Sample in Vidmar 1 des Berner Schauspiels und verfolgt aus angenehmer Distanz, wie das Kleiderproblem flüssig und gekonnt entfaltet wird. Bertolt Brecht hätte es zum Stück verarbeitet. Aber ach!, klagte Claus Peymann, "er war der letzte, der abstrakte Sachverhalte versinnlichen konnte". Jetzt müssen wir uns mit dem Feature begnügen. Das bedeutet gleichmässige Narration ohne Wechsel der Intensität.

 

Das sympathische vierköpfige Ensemble (bestehend aus Jeanne Devos, Lou Haltinner, Fritz Manhenke und Genet Zegay) wechselt locker zwischen den Polen Input und Illustration. Illustration bedeutet: Darstellung des Problems durch Requisiten. Auf der Bühne von Michael Köpke werden Hunderte von Kleidungsstücken ausgebreitet. Und durch den Gebrauch von Handys verwandeln sich die Performer zu Influencern (Video: Monja Lalotra). Daniel Sapir liefert dazu Muzak ("Ein Begriff für eine Art von Hintergrundmusik, die oft in öffentlichen und kommerziellen Räumen wie Restaurants, Geschäften und Aufzügen verwendet wird, um eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Sie ist leise, angenehm und soll nicht aktiv wahrgenommen werden, sondern im Hintergrund bleiben." [Quelle: KI])

 

Unter der Regie von Gernot Grünewald bringt "#lookoftheday" eine angenehm flüssige, wenn auch etwas längliche Darstellung der Gemengelage von Fashion, Konsum, Kapitalismus, Ausbeutung, Kolonialgeschichte, Oberflächlichkeit und Gedankenlosigkeit. Zu ihr können IRL alle guten Gewissens Ja sagen.

 

Am Ende bedankt sich das Premierenpublikum mit einer Standing Ovation. Diese Reaktion zeigt an, dass das Berner Schauspiel die Schraube deutlich stärker hätte anziehen müssen, um der Darstellung jene Schärfe zu geben, die schmerzt. Jetzt aber bleibt sie, tbh, hinter dem Anspruch zurück, den Menschen, die gerne denken, gewohnt sind, ans Theater zu richten. <

Illustration ... 

... des Problems ... 

... durchs Handy. 

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