Anstatt Drama: Posen und Bühnennebel. © Konstantin Nazlamov.

 

 

Eine florentinische Tragödie. Richard Flury. / L'Heure espagnole. Maurice Ravel.

Kurzopern.

Paul Mann, Anna Magdalena Fitzi, Verena Hemmerlein. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. April 2025.

 

> Zum musikalischen Saisonende veranstaltet TOBS!, das Theaterunternehmen am Jurasüdfuss, eine sehr ungleiche Partie. Es lässt den FC Solothurn gegen Paris Saint-Germain antreten. Das Wettbüro ist geschlossen, denn der Ausgang ist zu klar: Sieg für die Gastmannschaft. Das Resultat lautet 2 : 17. – Paris spielt unter der Leitung von Captain Maurice Ravel. Gegen ihn hat der Chef der lokalen Equipe, ein in der internationalen Szene vollkommen Unbekannter namens Richard Flury, nichts zu melden. Dass der Solothurner mit einer "Tragödie" antritt, macht seine Sache besonders tragisch. Doch zum Glück retten die französischen Ballkünstler den Abend. Mit ihrem Können bescheren sie den Besuchern in der zweiten Spielzeithälfte noch eine vergnügliche "Stunde". <

 

Als im 19. Jahrhundert der wissenschaftliche und technische Fortschritt in die Moderne führte (mit Verdrängung der Postkutsche durch die Eisenbahn, Gotthardtunnel, Hauensteintunnel, Weissensteintunnel, Industrialisierung des Mittellands, Papier- und Stahlwerke an Aare und Emme, Landflucht, Arbeiterelend, Materialismus, Kapitalismus, Sozialismus, Anarchismus), wurde die Institution der heiligen, monogamen, heterosexuellen, lebenslänglichen Ehe zu einer solchen Belastung, dass das Zeitalter glaubte, die Menschen nur durch strengste Unterdrückung aller sexuellen Vorstellungen vor der Versuchung des Seitensprungs bewahren zu können.

 

Viktorianische Moral und Prüderie erlaubten nicht mehr, das Wort "Stuhlbein" zu verwenden, weil sonst der erotische Gedanke ans Bein wachgerufen zu werden drohte. Die Unterhosen nannte man "die Unaussprechlichen". Und der Büstenhalter, der in Wirklichkeit ein Brüstehalter ist, hiess auf Französisch (bis heute) "der Kehlenhalter" (le soutien-gorge). In seiner neuen, hochskandalösen Wissenschaft der Psychoanalyse wies der Wiener Nervenarzt Dr. Sigmund Freud nach, dass die Verdrängung der Sexualität die Ursache sei für Hysterie (die damalige Weiberkrankheit), Phobien, Neurosen, Ticks und Fehlleistungen im Alltag.

 

Das Theater erlaubte es, den Triebstau abfliessen zu lassen. Die grosse Angst der Eheleute vor dem Fremdgehen wurde im "Lustspiel" (welch wunderbar aufdeckendes Wort!) auf gesellschaftlich zulässige Weise verarbeitet. Aber nicht nur in der Komödie. Neunzig Prozent aller Opern handeln von ehelicher Untreue und Sex. So auch die beiden Titel, die Theater Orchester Biel Solothurn zum Abschluss der Saison auf den Spielplan gesetzt hat: "Eine florentinische Tragödie" von Richard Flury und "L'Heure espagnole" von Maurice Ravel.

 

In beiden Kurzopern geht es – einmal ernst, einmal humoristisch – um die gleiche Obsession: Kaum hat der Ehemann das Haus verlassen, öffnet die Ehefrau Tür und Beine für den Nebenbuhler. Das ist es, was die Gatten fürchten und die Gattinnen ersehnen. Im einen Fall (Flury) führt das Stück zur Ermordung des Liebhabers durch den Gatten und zur späten Erkenntnis der Frau (worin vielleicht der ironische Kern von Oscar Wildes unvollendeter Ehetragödie liegt): "Hätt' ich nur früher gewusst, dass du Eier hast!" Auf der Bühne sagt sie das natürlich zensurtauglich. Der andere Fall (Ravel) führt zum typisch französischen Arrangement einer diskreten wöchentlichen Befriedigung der Gattin durch einen muskulösen Maultiertreiber.

 

Rätselhaft ist bei beiden Aufführungen, wie TOBS! auf die "Altersempfehlung 14+" kommt. Die Ängste der längst Dahingegangenen sind für heutige junge Menschen uninteressant, und für Zuschauer mittleren Alters bloss von sozialgeschichtlicher Bedeutung. Nun, an der Solothurner Premiere fehlten die beiden Segmente. Das Publikum bildeten Leute der Altersstufe 70+, ja grossmehrheitlich sogar 80+. Sie gehörten vermutlich zur Generation, die Richard Flury noch unterrichtet hat. Der Komponist, geboren 1896 in Biberist und gestorben ebenda 1967, wirkte von 1930 bis 1961 als Musiklehrer an der Kantonsschule Solothurn.

 

Richard Flurys Stil ist eingedämmt, flach und gleichmässig wie das Bett der Emme in Biberist. Die lokale Kritik wird vermutlich finden, der Komponist verdiene es, wiederentdeckt zu werden. Für diesen Gedanken wirbt ja auch die Richard-Flury-Stiftung, die der Sohn Urs Joseph Flury 1996 zum hundertsten Geburtstag seines Vaters eingerichtet hat.

 

Wie langweilig aber die "florentinische Tragödie" ist, tritt im Vergleich mit Maurice Ravels "Heure espagnole" grausam zutage. Über sie schreibt Altmeister Kurt Pahlen: "Ravels Musik ist geistvoll und sprühend, sein rezitativisches Parlando voll Witz. Das Orchester setzt Schlaglichter auf, ist behend, spritzig, leicht dahinhuschend." Am Jurasüdfuss werden die Partituren von Flury und Ravel in reduzierter Fassung gegeben. Paul Mann dirigiert das Sinfonieorchester Biel Solothurn exakt und anständig, aber nicht sonderlich inspiriert. Weniger Devotion und mehr Chutzpe hätten der Interpretation geholfen.

 

Auch Regisseurin Anna Magdalena Fitzi weiss mit der "florentinischen Tragödie" nichts Rechtes anzufangen. Die Sänger von Oscar Wildes unvollendetem Einakter in der furchtbaren Übersetzung von Max Meyerfeld nehmen blosse Posen ein –

 

Welches ihnen anstund wie die gezwungenen Aktionen eines neugeworbenen ungeschickten Komödianten, der die Person, die er vertreten soll, nicht wohl agieren kann.

(Grimmelshausen: Simplicius Simplicissimus, 1669.)

 

Das Libretto liess die Regisseurin im Stich. Ihr fiel nichts weiteres ein, als die "Tragödie" mit malerischen Vorgängen wie Bodennebel, Sturm und Schneetreiben (in Florenz!), niederrieselnden Herbstblättern und Banknoten (im 17. Jahrhundert!) aufzuhübschen. Daneben sängerfreundliche Statik, aber kaum Interaktion, geschweige denn Psychologie.

 

Die "Stunde" fiel glücklicherweise vergnüglich aus. Das Libretto ist so gut, dass es ausreicht, sich von ihm führen zu lassen, damit sich ein ansehnlicher Einakter ergibt. Regie, Bühnenbild (Verena Hemmerlein) und Ensemble wissen, was zu tun ist, und führen das Geforderte überzeugend und effektvoll aus.

 

Daher nun ist die erste, ja schon für sich allein beinahe ausreichende Regel des guten Stils diese, dass man etwas zu sagen habe: oh, damit kommt man weit!

(Arthur Schopenhauer.)

Die Frau als Verführerin.

© Joel Schweizer.

Die Frau ala Heuchlerin.

Die Frau als Mänade.

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