Erzähler und Zuhörer. © Alejandro Guerrero.
Le Porteur d'Histoires. Alexis Michalik.
Schauspiel.
Alexis Michalik. Théâtre Montparnasse, Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. Oktober 2024.
> Das Stück als Labyrinth. Virtuos verknüpft Alexis Michalik hundert lose Erzählfäden zu einem einzigen durchgehenden Strang. Am Ende reicht die Verbindung von Algerien über die Ardennen bis nach Nordamerika; von der Urzeit über die alten Griechen bis zu den Kreuzfahrern; vom Ancien régime über die französischen Revolution bis in die Gegenwart. Dabei nimmt das Erzählte zuweilen den Charakter alternativer Wahrheiten an, und das Flirren der Geschichten wird zum Flirren der Geschichte. <
Der Autor inszeniert sein Stück selbst. Dafür wird er mit zwei französischen Theaterpreisen – sie heissen hierzulande Molière – bedacht: einem für das Stück und einem für die Inszenierung. Die Entscheidung ist nachvollziehbar. Obwohl im Lauf von knapp zwei Stunden viele, viele Geschichten ausgetüftelt und miteinander verbunden werden, verliert das Publikum nie die Orientierung. Es versteht, an welchem Punkt sich die Handlung gerade befindet, auch wenn "Le Porteur d'Histoires" die verschiedenartigsten Ebenen miteinander in Beziehung setzt.
Die erste Ebene bilden der Erzähler und seine beiden Zuhörerinnen. Die Frauen leben in einem einsamen Haus am Rand der algerischen Wüste. Der Erzähler kommt mit dem Auto und sucht ein Zimmer für die Nacht. Die Frage: "Was hat Sie hergeführt?", bringt Verhältnisse ans Licht, die in der Vergangenheit liegen. Sie werden in Form von Geschichten vorgetragen (zweite Ebene).
Hinter den Geschichten aber, welche die Herkunft der drei Personen erklären, liegen die Verhältnisse, die zu ihrer Geburt führten. Die Verhältnisse im Bereich der Familiengeschichte (dritte Ebene) ruhen auf Verhältnissen der allgemeinen Geschichte (vierte Ebene). Die vier Ebenen werden durch das Wort miteinander verknüpft, und es ist immer ein Erzähler (porteur d'histoires), der das Wort handhabt. Ob das, was er vorbringt, wahr ist, entscheidet der Glaube des Zuhörers. Er schenkt nur dem Vertrauen, was ihm glaubwürdig vorkommt. So bilden vorgefasste Einstellungen den Filter, der Flunkereien abweist und Tatsachenberichte durchlässt (fünfte Ebene). Das Neue, das Wahre aber erreicht uns nie unmittelbar.
"Le Porteur d'Histoires" spielt folglich mit dem Faktum, dass die Wahrheit durch einen Kommunikationsakt entsteht. Jemand teilt etwas mit und behauptet, es sei wahr, bzw. wirklich gewesen. Der Angesprochene nimmt das Mitgeteilte auf und betrachtet es je nach den Einstellungen seines Fürwahrhaltens als Tatsache. Die Zürcher Germanistin Margret Walter-Schneider hat über diese Verflechtungen ein faszinierendes Buch geschrieben: "Denken als Verdacht. Untersuchungen zum Problem der Wahrnehmung im Werk Franz Kafkas".
Die verschiedenen – nennen wir sie: narrativen Ebenen realisiert Alexis Michaliks Inszenierung als Spielebenen. Blitzschnell und "glaubwürdig" (s. fünfte Ebene) schlüpft das Ensemble in unterschiedliche Personen und Zeiten. Dafür genügt der Wechsel eines Kostümteils oder Requisits, und schon gestaltet die Phantasie des Publikums das Gemeinte aus und fängt an, darin zu leben. Die Qualität der Aufführung liegt also, wie man sieht, in ihrer schauspielerischen Evokationskraft, unterstützt von inszenatorischer Eleganz (sechste Ebene).
Der "Wechsel der Töne" ist zweifellos gegeben. (Mit diesem Hölderlin-Wort bezeichnete Walther Killy jenes elementare ästhetische Prinzip, das die Gebildeten seit der Antike "variatio delectat" nennen.) Doch beim "Porteur d'Histoires" erstreckt sich die "Variatio" leider nicht auf den Rhythmus. Die Szenen sind alle mehr oder weniger gleich lang und haben mehr oder weniger das gleiche Tempo. Damit gleicht das Schauspiel von Alexis Michalik einer Symphonie, die nur aus einem einzigen Satz mit der Bezeichnung Allegro besteht. Die höchste Perfektion aber verlangt das Spiel mit Beschleunigung, Verlangsamung... und Vertiefung. Das ist jedenfalls die Auffassung des Kritikers aus Bümpliz und der Welt (siebte Ebene).
Durch den Lauf ...
... der Zeiten ...
... und Kulturen.