Der Haremswächter und die Blonde. © Janosch Abel.

 

 

Die Entführung aus dem Serail. Wolfgang Amadeus Mozart.

Deutsches Singspiel in drei Aufzügen.

Artem Lonhinov, Barbara Weber, Theres Indermaur, Sara Giancane, Georg Lendorff. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 5. Mai 2024.

 

> Der Abend ist geprägt von der Tatsache, dass die Regisseurin Barbara Weber eine lange Erfahrung vom Schauspiel herbringt. Sogar wenn die Mitwirkenden bloss gesangsfreundlich aufge­stellt sind, bieten sie in jeder Arie mehr als schöne Töne: Sie wissen, wo ihre Figur steht, und drücken deren Befind­lichkeit durch feines Spiel aus. Dieser Ansatz gibt dem ganzen Abend eine beeindruckende Spannung, zumal die eigenständige Erzählweise dem alten Stück laufend neue Facetten abgewinnt. Die Gesangssolisten sind allesamt sehr gut, und das Berner Symphonieorchester unter Leitung von Artem Lonhinov einfach zum Umarmen. <

 

Die Ouvertüre erklingt bei geschlossenem Vorhang. Zwei Takte bevor das Publikum ruhig geworden ist, lässt Artem Lonhinov das Berner Symphonieorchester einsetzen. Ein Zeichen, dass er sich schon in der Handlung befindet – und die Musiker auch. Sie schlagen miteinander ein Tempo ein, welches das übliche hinter sich lässt (Presto = 140). Hier entwickeln die Begleitfiguren der Mittelstimmen im Vorwärtsdrängen eine betörende, flirrende Schönheit, in die das harte, metallisch klingende Schlagwerk die Glanzpunkte setzt. Abrupt folgen darauf die ruhigen Zwischenteile: In ihnen entwickelt sich eine sachlich gehaltene Melodie ohne romantischen Hauch. Mozart kommt eben aus dem 18. Jahrhundert, und die Berner Interpre­tation bringt das wohltuend zu Gehör.

 

Ein Jahr vor der Premiere der "Entführung aus dem Serail" ist der Komponist selber ausgebrochen – aus dem Salzburger Gefängnis, wo er unter strenger väterlicher Aufsicht stand. In der Oper heisst der Haremswächter nicht Leopold, sondern Osmin. Mozart aber gestaltet im Singspiel sein eigenes Schicksal. Am 4. August 1782, zwei Wochen nach der Premiere am Burgtheater, die am 16. Juli erfolgt ist, heiratet er seine Konstanze, die er aus familiärer Umklammerung am Wiener Petersplatz befreit hat.

 

Bruchlos führt nun die Ouvertüre in die erste Szene, ein Übergang, für den sie Berlioz getadelt hat. Umso deutlicher bekommt dafür das Parkettpublikum mit, dass rechts die Tür für einen Zuspätkommenden aufgeht. Doch kaum ist der junge Mann in den Zuschauerraum geglitten, wird er schon vom Scheinwerfer erfasst. Es handelt sich bei ihm nicht um einen Berner, sondern um Belmonte. Er bewegt sich mit einer schwarzen Ledertasche durch die dritte Reihe: "Hier soll ich dich denn sehen / Konstanze, dich mein Glück!" Der Tenor Ian Matthew Castro gehört zu uns, nicht nur durch Requisit und Kleidung (Sara Giancane), sondern auch durch den Umstand, dass uns sein Gesang direkt ins Ohr dringt, ohne zuvor den Orchestergraben übersteigen zu müssen. Damit wird die warme Qualität seiner Stimme und die technisch vollkommene Beherrschung ihres Ausdrucks schon bei der ersten Begegnung erfahrbar.

 

Jetzt gleitet im Goldportal der rote, festlich leuchtende Samtvorhang auseinander, und wieder wird das Publikum von Überraschung gepackt. An diesem Übergang zeigt sich das Händchen (um nicht nur prosaisch zu sagen: das Handwerk) von Barbara Weber zum zweiten Mal. Die Regisseurin setzt ihre wohlbemessenen szenischen Effekte mit Gespür für Raum und Rhythmus so wirkungssicher ein, dass sich den Zuschauern an verschiedenen Stellen ein "Ah!" entwindet.

 

Die Bühne führt, wie vom Libretto gefordert, auf einen "Platz vor dem Palast des Bassa Selim am Ufer des Meeres". In den gesprochenen Passagen hört man die Brandung rauschen. Liegestuhl, Eisentisch, Sonnenschirm und Bar evozieren Strandgenuss vor einer schroffen Felswand, in die eine elektronisch gesicherte Bunkertür führt (Bühne Theres Indermaur). Die Handlung spielt nicht im Kuoniparadies, sondern in einem Serail. Niemand ist hier frei. Nicht einmal der Herrscher. Auf diese Weise spiegelt sich im Werk die absolutistische Gewaltstruktur des 18. Jahrhunderts, und in der Aufführung die Einsamkeit des Menschen im Kontrollstaat.

 

Nach Belmontes Tenor im Zuschauerraum erklingt nun auf der Bühne der Bass des Serailaufsehers, ebenfalls im 6/8-Takt, Andante. Und auch bei ihm ist der Einsatz – wie später beim Auftritt der Frauen Konstanze und Blonde – von unmittelbar packendem Wohlklang. Christian Valle hantiert mit einem Rüstmesser. Am Burgtheater Wien nahm Osmin 1782 damit Feigen ab. In Bern bereitet er heute Früchte für den Mixer zu. Er wird den ganzen Abend so ein gefährliches Requisit in der Hand tragen, das sich von Szene zu Szene verlängern und phallisch auswachsen wird zu Dolch, Säbel und Schlagstock.

 

Damit umschreiben die Gegenstände Osmins Unglück: Unbefrie­dig­tes Liebesverlangen. Notgedrungen kippt es in sein Gegen­teil: Mordlust und Aggression: "Gift und Dolch! Ich möchte bersten! Verbrennen sollte man die Hunde. Erst geköpft, dann gehangen, dann gespiesst auf heisse Stangen." Von Mozart her gesehen erweist sich die Unmenschlichkeit als Ausdruck von Frustration und Verzweif­lung.

 

Noch verzweifelter ist freilich das Los des Herrschers. Die Untergebenen gehorchen ihm auf Wink und Miene, denn sie wissen, dass es sonst mit ihnen aus ist. Doch die gefangene Konstanze verweigert Bassa Selim ihre Liebe. Und Zwang bewirkt bei ihr nichts, weil sie den Tod nicht fürchtet:

 

KONSTANZE: Töte mich, Selim töte mich! Nur zwinge mich nicht, meineidig zu werden. Noch zuletzt, wie mich der Seeräuber aus den Armen meines Geliebten riss, schwur ich aufs feierlichste ...

SELIM: Halt ein, nicht ein Wort! Reize meinen Zorn nicht noch mehr. Bedenke, dass du in meiner Gewalt bist.

 

Gleichwohl steht der Gewaltherrscher mit all seiner Macht ohnmächtig vor der angebeteten, aber unerreichbaren Frau. Alles steht ihm zu Diensten, nur die Liebe nicht. Wie Tantalus im Hades streckt er die Hände nach den unerreichbaren Früchten aus, und am Ende der Aufführung, wenn die beiden Liebespaare wegziehen, windet er sich in Elend und Verzweiflung.

 

Im Video von Georg Lendorff zeigt sich die ganze Ambivalenz: Die Überwachungskameras dringen in die intimsten Ecken ein und erfassen die nackten Bewohner des Serails beim Fitness­training, beim Liebesakt, beim notwendigen Geschäft auf der WC-Schüssel, aber das Bild bleibt blosse Projektion. Die optischen Linsen des Kontrollsystems schaffen keinen Kontakt, keine Gegenseitigkeit. Und der Herrscher mitsamt seinem Aufseher bleibt Voyeur, mithin armes Würstchen.

 

Roger Bonjour zeichnet Bassa Selim als nonbinäre Promi­figur. Einsamkeit umschwebt ihr stilisiertes Gebaren. Die jungen, einfachen Menschen (Blonde: Josefine Mindus, Pedrillo: Michal Proszynski) können sich einander schenken. Selim aber bleibt mit all seinen Schätzen und seinem von Liebe überquellenden Herzen unbegehrt. Damit unterstreicht die Inszenierung hinter dem "lieto finale" den tragischen Kontrapunkt:

 

CHOR: Bassa Selim lebe lange,

Ehre sei sein Eigentum.

Seine holde Scheitel [Stirne] prange

Voll von Jubel, voll von Ruhm.

 

Ambivalenz zeichnet auch die Darstellung Konstanzes durch Patricia Westley aus. Natürlich bleibt sie dem fernen Geliebten treu. Natürlich widersteht sie Zwang und Gewalt. Aber wenn Bassa Selim sie mit liebebegehrenden Armen umschmeichelt, entlockt die Wollust des Begehrtwerdens ihrem Gesang brünstige Glissandi, und ihre Spitzentöne verraten, von welchen Phantasien Mozart beim Komponieren angetrieben war – zwei Wochen vor der Brautnacht mit der zwanzigjährigen Konstanze, geborene Weber.

Gefangen. 

Unerreichbar. 

Nur ein Idol. 

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