Das Ich: Umgeben von Sprachmasken. © Anette Boutellier.

 

 

Die Dampfnudel. Dmitrij Gawrisch.

Patchwork-Komödie.

Loreta Laha, Joanne Klopp. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 4. April 2024.

 

> Ja, liebe Genossinnen und Genossen, jetzt sind die Millen­nials auch volljährig – schon seit sechs Jahren. Viele haben einen Bachelor, einen Master gar. Und mit dem unbestechlichen Blick der kritischen, jungen Erwachsenen beginnen sie, von der problematischen Zeit ihrer Jugend zu sprechen. Die Hälfte hat durchlebt, wie es ist, bei getrennten Eltern aufzuwachsen und sich mit deren zeitweiligen Partnern arrangieren lernen zu müssen. Lustig war das nicht. Eher zum Heulen. Darum schildern jetzt Stück und Inszenierung in der "Dampfnudel" des Berner Schauspiels die Patchwork-Situation als nervzehrende, traurige Posse, aus der man gern davonliefe, wenn man nur könnte. Doch man muss sie aushalten – als Kind bis zur Volljährigkeit, und als Publikum bis zum Schluss der Vorstellung. In beiden Fällen erweist sich aber das Ende als Befreiung. <

 

Vor mehr als einem halben Jahrhundert ging am städtischen Gymnasium Biel Jürgen Rose in Pension. Er hatte Mathematik und Physik unterrichtet; in einer weissen Schürze natürlich, wie sich das für einen Lehrer der Naturwissenschaften gehörte. Verschiedene Anekdoten kursierten über ihn. Die schönste und vermutlich authentischste wurde im Kollegenkreis weiterge­reicht:

 

An einer mündlichen Maturprüfung im Fach Mathematik sollte der Kandidat an der Tafel etwas vorrechnen, wusste aber offen­sicht­lich nicht, wie die Aufgabe anzupacken sei. Jürgen Rose kam ihm zuhilfe: "Ich will Ihnen die Formel geben." Der Maturand bedankte sich und begann zu rechnen. Die erste Tafelhälfte war voll; die Zeichen begannen sich auf der zweiten Hälfte fortzusetzen; doch immer noch war kein Resultat in Sicht. Rose wurde nervös. Mit prüfendem Blick ging er die einzelnen Schritte durch und murmelte vor sich hin: "Da muss doch irgendwo ein Fehler sein! Da muss doch irgendwo ein Fehler sein!" Am Ende intervenierte der Experte mit breitem, berndeutsch gefärbtem Idiom: "Ich kann Ihnen sagen, wo der Fehler liegt, Herr Rose. Sie haben ihm die falsche Formel angegeben."

 

Auch bei der gestrigen Uraufführung an den Bühnen Bern hat der Kandidat zwei Tafeln gefüllt (das heisst eine Spiellänge von 1 Stunde 20 Minuten abgegeben) und Glied für Glied richtig ge­rech­net, ohne aber zu einem gültigen Resultat zu kommen. Der Fehler lag auch hier bei der falschen Formel: Dmitrij Gawrisch schilderte einen selbsterlebten, heute weitverbreiteten Zustand, wo sich "Drama" doch von "Handlung" ableitet.

 

So besteht die "Patchwork-Komödie" unter dem Titel "Die Dampfnudel" als Situationsgemälde aus einer Anhäufung von Wirklich­keits- und Sprachzitaten, die uns allen bekannt sind und den Charakter des Typischen tragen, doch nichts auf der Bühne in Fahrt setzen und nirgendwo hinführen. Demzufolge bleiben die Figuren statisch. Statt mehrschichtig sind sie einschichtig, und der Verlauf bringt sie nicht weiter. Ihr Wesen wandelt sich nicht.

 

Im Theater wie im Leben ergibt sich Veränderung durch "das Ereignis von aussen": Der Vater verliert beispielsweise die Arbeit, baut einen Unfall, wird invalid. Für die Personen auf der Bühne wie für die Personen im Zuschauerraum entsteht durch dieses dramaturgische Element die Frage: "Und jetzt, wie weiter?" Indem das Interesse aufs Neue, Unbekannte ausge­richtet wird, entsteht Spannung. Und Spannung ist, wie Emil Staiger vor nunmehr neunzig Jahren nachgewiesen hat, die Essenz des Theaters.

 

Dmitrij Gawrisch aber ist nicht nach dieser Formel vorge­gangen. Seine "Patchwork-Komödie" schildert nicht einen Verlauf, sondern bloss ein Problem: Was machen die Erwachsenen mit dem Kind, das Woche für Woche in eine andere Konstellation geschoben wird? Das Kleine geht in der "Dampfnudel" noch nicht zur Schule. Es lässt sich folglich durch PlayStation und Leckerbissen noch leicht ruhigstellen. Aber was wird sich aus seiner Kindheit ergeben?

 

Diese Frage umkreist das Stück wie ein grosses, dunkles Rätsel. Auf der Bühne reden alle; manchmal auch zum Kind, damit es lieb ist, das heisst sich so benimmt, dass sein Verhalten die Erwachsenen nicht stört. Was aber das Kind denkt, fühlt und spricht, vernehmen wir nicht. Dergestalt liegt der Kern der Komödie durch die Verknüpfung von Floskeln und Leerstellen im Nichts. Das ist beachtlich. Als Autor setzt sich Dmitrij Gawrisch mit seinem pessimistischen Gemälde in Achtung. Um aber die Bühne als Dramatiker zu erobern, muss er noch dazulernen.

 

Auch Loreta Laha liefert ein Probestück ab. Die Regieassi­stentin macht mit der "Dampfnudel" ihre erste Inszenierung. Gut ist, wie sie zuammen mit ihrer Bühnenbildnerin Joanne Klopp das Problem der Säule im kleinen Raum Vidmar 2 umspielt, indem sie die Zuschauer über Eck vor die Bühne setzt. Und gut ist, wie sie die unbeschäftigten Akteure aus dem Spiel nimmt, indem sie sie an die Wand stellt oder ablegt wie Schachfiguren. Sie achtet auf Tempo und Bewegung und lässt das loyale Ensemble (bestehend aus Vanessa Bärtsch, David Berger, Jeanne Devos und Jan Maak) typische, wenngleich oft übertrieben grosse Posen einnehmen. Insofern gleicht die Inszenierung dem Stück: Beide blicken an, aber nicht in die Figuren. In diesem Punkt werden sich Regisseurin und Autor noch weiterentwickeln.

Alle schmoren im eigenen Saft. 

 
 
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