Ulysses und Penelope. © Joel Schweizer.

 

 

Ulysses. Reinhard Keiser.

Musikalisches Schauspiel.

Clemens Flick, Nicola Raab, Mads Boyd. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. März 2024.

 

> Vom Moment an, wo die Klassik aufkam, war das Adjektiv "barock" ein Schmähwort. Es bezeichnete während zweihundert Jahren überladene, unförmige Gebilde von schlechten Propor­tionen. Sie wurden als "Schwellstil" abgetan. Dieselben barocken Eigenschaften charakterisieren nun ebenfalls "Ulysses", die Ausgrabung von Theater Orchester Biel Solothurn in Kooperation mit Theater und Orchester Heidelberg. Aber die Wiedergabe zeigt auch eine Liebe zum Detail, welche die überdurchschnittliche Einfallskraft des vergessenen Komponisten Reinhard Keiser (1674 – 1739) in ein positives Licht stellt. Im schönsten Barock­theater der Schweiz bekommt das Werk dreihundert Jahre nach der Uraufführung für ein paar Frühlingswochen ein zweites Leben, das die Denk- und Empfindungsweise einer unrettbar vergangenen Epoche nachvoll­ziehbar macht. <

 

Beispielgebend für die Barockkunst war Versailles – also jener goldene Käfig, in dem Ludwig XIV. die französischen Adeligen gefangenhielt, damit sie nicht von ihren Herzogtümern aus gegen den König der Ile-de-France konspirieren konnten. Bei Lever, Messe und Dîner kontrollierte der Tyrann (l'état c'est moi!), dass alle anwesend waren und sich korrekt betrugen. Die Geheimpolizei las alle Korrespondenz. Die Dienerschaft spio­nierte die Herrschaften aus und meldete Verdächtiges weiter.

 

Um über die Brutalität des Machtgefüges hinweg­zutäuschen und die alles überragende Grösse des Monarchen vor aller Welt auszustellen, wurde das Leben in Versailles für Gäste und Staatsgefangene als ununterbrochenes, glanzvolles Fest inszeniert. Wer zu den prestigereichen Anlässen zugelassen war, sollte sich wichtig fühlen und vergessen können, dass er faktisch keine Selbständigkeit besass. Mit Ablenkung, Glanz und streng durchgetakteter Betriebsamkeit hielt die Diktatur ihre Untergebenen auf Trab.

 

Auf diese Weise lebte Versailles der Welt den Absolutismus vor: Der Monarch war Gott allein Rechenschaft schuldig und niemandem sonst. Gleich unumschränkt wie der himmlische Vater über das Jenseits regierte, regierte der Vater der Nation über das Diesseits. Beide obersten Herren hatten ihre Chöre, ihre Schalmeien, ihre Hofmusikanten: "Jauchzet! Frohlocket!" Die Hofanlässe bestanden aus mehrtägigen Lustbarkeiten. Indem sie nicht lang genug dauern konnten, stellten sie die Unerschöpf­lichkeit der fürstlichen Mittel unter Beweis. "Mehr ist mehr", war im Barock die Devise. Die Herrschaften prunkten mit dem Aufwand. Auch mit dem Zeitaufwand. Andererseits: Die Höflinge hatten ja sonst nichts zu tun; sie hatten keine Aufgabe; sie langweilten sich.

 

In diesen Rahmen gehört "Ulysses". Reinhard Keisers Werk entstand 1722 als Huldigungsoper für das dänische Königspaar. Damit wollte Dänemark sich und der Welt zeigen, dass man in Kopenhagen auch jemand war. Dass man, wie alle europäischen Haupt- und Residenzstädte, auch in der Lage war, eine Oper (damals die angesagteste Kunstform) zu stemmen. Und dass man sich in der antiken Mythologie auskannte, mithin zu den Kultivierten zählte.

 

Und wie die Maler damals Hunderte, nein: Tausende von Kreuzi­gungen, Kreuzabnahmen, Auferstehungen und Pietà-Darstellungen produzierten, schrieben die Komponisten Dutzende, nein: Hunderte von Odysseus- und Aeneasopern. Das Publikum sass vor ihnen wie vor einem bewegten, klingenden Bilderbuch. Jede Szene zeigte einen Moment aus der Handlung. In jeder Szene stellte sich ein Sänger ins Zentrum und demonstrierte seine Kunst. Der Hintergrund bestand aus Bildern, die sich fest im Fundus des Theaters befanden, beziehungsweise von der Truppe mitgebracht wurden: Liebliche Gegend, wüste Gegend, Höhle, Gestade, Park, Blumengarten, Festsaal, Damengemach, Kircheninneres, Kirchenäusseres ...

 

Mit dieser Struktur glich die Barockoper dem Diavortrag aus der Mitte des letzten Jahrhunderts: Die Geschichte wechselt von einem unbewegten Bild zum nächsten. Das einzelne Bild wird mit ein paar Takten eingeleitet, die seinen Charakter bezeichnen, dann kommt das Lied des Solisten (italienisch: aria). Dieser Form unterwarf sich die Musik dreihundert Jahre lang, bis sie Wagner überwand und einen fortlaufenden musikalischen Strom zu komponieren begann.

 

Bei "Ulysses" ist der Text von Friedrich Maximilian von Lersner, wie es der Zeit entspricht, für heutige Ohren übertrieben pötisch. Gemäss dem Schwellstil-Ideal drücken sich die Figuren durch und durch geschwollen aus und bedienen sich dafür einer dem Hofgebrauch nachemp­fun­denen gespreizten Sprache, die als vornehm gilt und somit der Sphäre der Götter und Heroen angemessen. Statt unumwunden zu singen: "Ich liebe Sie" (I love you, yeah, yeah, yeah), müssen die Darsteller sagen: "Mein Herz dürstet nach Ihrer Seele". Ein solcher Satz genügt für eine halbe Arie. So auch in der dem Barock nach­empfunden Textfassung von Ulrike Schumann.

 

Auch Christian Flick, der Dirigent, hat nachgeholfen; denn die Oper ist nur unvollständig überliefert. Wenn er jetzt vor dem Sinfonie Orchester Biel Solothurn steht, kommt die Premiere einer Uraufführung gleich, und die Aufführung bringt eine valable Auffassung des komposito­rischen Werks von Reinhard Keiser aus erster Hand. Christian Flicks Einsatzfreude reisst zuerst die Musiker, dann die Zuhörer mit. Vorbildlich. Wenn Ausgrabung, dann so.

 

Gleich beeindruckend legen sich die Sänger ins Zeug, wobei es im Grad des Könnens Abstufungen gibt. Ganz vorzüglich sind die vier Studentinnen der Hochschule der Künste Bern, die als erste, zweite, dritte und vierte Amourette auftreten (Anna Beatriz Gomes, Eszter Gyüdi, Raisa Ierone und Gülden Vildan Atakan). Und souverän ist der Darsteller der Titelpartie Henryk Böhm: Vielfarbige Durchgestaltung aller gesanglichen und darstellerischen Momente, dazu tadellose Textverständ­lichkeit. Vorbildlich.

 

Die assoziative Abfolge der Szenen verbessern Regisseurin Nicola Raab und Bühnenbildnerin Mads Boyd, indem sie die Figur eines Dichters (Klaus Brantzen) ins Einheitsbühnenbild einer Bar setzen. Er verfasst in Nachfolge Homers die Handlung, und vor seinem inneren Auge bilden sich die einzelnen Auftritte. Damit überwindet das Regieteam die Schwierigkeit, dass in der Entstehungszeit von "Ulysses" eine Oper genossen wurde wie ein Buffet. Niemand legte von allen Speisen etwas auf den Teller; und niemand hörte alle Nummern durch. Sondern man bewegte sich angeregt von der Musik durch den hellerleuchteten Raum, nickte sich gegenseitig zu und unterbrach die Konversation nur für einzelne sängerische Höhepunkte.

 

Heute werden folglich die Barockopern mit einer Andacht aufge­nommen, die dem zeitgenössischen Adel fremd war, und das bürger­liche Publikum sitzt, oft dösend, Längen ab, die nicht immer himmlisch sind. Aber es geht um die Unerschöpflichkeit der Mittel. Mehr ist mehr. So konfrontiert mit "Ulysses" das schönste Barocktheater der Schweiz die TikTok-Generation mit der Denk- und Empfindungsweise einer unrettbar vergangenen Epoche.

Konfrontation mit dem andern ... 

... Konfrontation mit sich selbst ...

... und Konfrontation mit den Amouretten. 

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