Speck und Knödel, Blut und Boden. © Moritz Schell.

 
 

 

Der Himbeerpflücker. Fritz Hochwälder.

Komödie.

Stephanie Mohr, Miriam Busch. Theater in der Josefstadt, Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 20. März 2024.

 

> Ein unheimliches Erlebnis: Den "Himbeerpflücker" in den Wiener Kammerspielen (dem kleinen Haus des Theaters in der Josefstadt) zu sehen. In der Nachmittagsvorstellung dieses Märzsonntags sitzen – wie vermutlich an jedem Sonntag­nach­mittag – lauter Menschen, die im Zweiten Weltkrieg zur Welt kamen. Jetzt sind sie zittrig, sehr gebrechlich und hoch, hochbetagt. Die Komödie von Fritz Hochwälder führt sie zurück in die Verhältnisse ihrer Jugend. Sie begegnen ihnen, ohne die geringste Regung zu zeigen. In bleierner Zeit haben sie gelernt, an sich zu halten. Jetzt sind sie erstarrt. <

 

Als unterm Führer noch Ordnung herrschte, wie die Nostalgiker sagen, schickte der Lagerkommandant gern die Insassen in die Steinbrüche; angeblich zum Himbeerpflücken. Davon erhielt er den Übernamen "Himbeerpflücker". Von der anderen Seite des Talkessels aus schoss er dann die gebückten Gestalten mit dem Zielfernrohr tot. Das war sein Nachmittagsvergnügen. Bis zum Ende des Krieges waren unter seiner Leitung 80'000 Menschen hinübergeschafft worden.

 

Nun trifft dieser Mann unter strengster Geheimhaltung in Bad Brauning ein. Die alten Kameraden haben den Befehl, ihm für die Flucht nach Südamerika über die Grenze zu helfen. Damit treten die alten Seilschaften wieder ans Licht. Im Gasthof "Zum weissen Lamm" koordinieren der Schuldirektor, der Arzt, der Anwalt, der Fabrikbesitzer, der Wirt und der Bürgermeister die Hilfe für den gesuchten Täter. Das "Grüssgott" ist vergessen, das "Heil Hitler" wieder da.

 

Fritz Hochwälder nennt sein Stück eine Komödie. Diese Gattung des Theaters deckt auf: Den Tartuffe; den eingebildeten Kranken; den Zerrissenen. Diesmal sind es die Notabeln. Dazu druckt das Programmheft ein Mundartgedicht von Peter Paul Wiplinger ab:

 

[Im Jahr Fünfundvierzig

 

Die meisten früheren Nazi waren jetzt ganz ruhig und

machten keinen Mucks, aber redeten sich da und dort heraus,

sie hätten eh nie irgendetwas Schreckliches gemacht, dass sie eh

nur sogenannte Mitläufer gewesen waren, weil ja alle so gewesen waren.

Das war natürlich voll gelogen, aber niemand hat etwas dagegen gesagt.

Um des lieben Friedens willen müssen wir jetzt alle wieder

zusammenfinden, hat mein Vater als Bürgermeister auch gesagt.]

 

 

Im Fünfaviazgajoahr

 

De meistn friahrign Nazi woarn hiazt gonz stad und

hobm koan Muks gmocht, owa do und doat se ausgredt,

dass eh nia iagandwos Grauslichs gmocht hobm, dass's eh

nur sogenannte Mitläufer woarn, wei jo olle so gwen san.

Des woar natiarlich voi glogn, owa neamd hod dogegngredt.

Um des lieben Friedens willen miassn ma hiazt olle wieda

zueinondafindn, hot mei Votta ois Buagamoasta a gsogt.

 

Unter der Direktion von Herbert Föttinger beleuchtet das Theater in der Josefstadt Spielzeit für Spielzeit den braunen Sumpf, und währenddem steigt draussen Spielzeit für Spielzeit sein Pegel. Stephanie Mohr, die mit ihrer Bühnenbildnerin Miriam Busch schon "In der Löwengrube" von Felix Mitterer und "Ein Kind unserer Zeit" von Ödön von Horváth inszeniert hat, wendet nun ihre Kunst der sparsamen, genauen Zeichen dem "Himbeerpflücker" zu. Die Porträts sind zugleich getroffen und entlarvend. Für die Sorgfalt der Regisseurin zeugt die Zeile: "Dank an Dominik Klinger, Dialekt-Coach von Claudius von Stolzmann." Vor sechs Jahren spielte Stolzmann "In der Löwengrube" den leibhaftigen Goebbels. Jetzt einen ebenso leibhaftigen Schenkknecht.

 

Das zittrige, sehr gebrechliche und hoch, hochbetagte Publikum lässt in den Wiener Kammerspielen die Wiederbegegnung mit der Alpenrepublik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs still über sich ergehen. Um des lieben Friedens willen zeigt es keine Regung. Und die anderen Zuschauer tauchen gar nicht erst auf. "Wirk­­lich, ich lebe in finsteren Zeiten!" (Bertolt Brecht: An die Nachgeborenen, 1939.)

Welch schöne Zeiten ... 

... als es Ordnung gab ... 

... unter unserem Führer!

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