Heidnische Nymphe und antiker Heros. © Clara Beck.

 
 

 

Polifemo. Nicola Porpora.

Opera seria.

Emmanuelle Haïm, Bruno Ravella.

Opéra national du Rhin, Strassburg.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 26. Februar 2024.

 

> Die Opernhäuser von Lille (237'000 Ew., mit dem Umland eine Million) und Strassburg (292'000 Ew., mit dem Umland 800'000) haben sich zusammengetan, um 289 Jahre nach der Uraufführung in London Nicola Porporas dreiaktige Opera seria "Polifemo" zur französischen Erstaufführung zu bringen. Sie haben dafür Le Concert d'Astrée engagiert. Das Ensemble, gegründet im Jahr 2000, hat sich europaweit einen Namen gemacht in der Interpretation von Barockmusik. Die Gesangssolisten (allesamt Stimmakrobaten) singen an den ersten Häusern. Und der ganze Aufwand führt zum Fazit: Interessant, aber langweilig. <

 

1733 wurde der italienische Komponist Nicola Porpora nach London eingeladen, um Georg Friedrich Haendels Unternehmen Konkurrenz zu machen, das von König Georg II. unterstützt wurde. Italienische Oper war damals nämlich in und schenkte ein. Von nun an konnten die Londoner zwischen zwei Truppen vergleichen.

 

Die Virtuosität der Sänger gab den Ausschlag. Eine Zeitlang spielte Haendel vor fast leerem Haus. Porpora aber schwamm obenauf. Am 1. Januar 1835 brachte er seinen "Polifemo" auf die Bretter. Haendel erwiderte am 8. Januar mit "Ariodante" und am 1. April mit "Alcina". Die beiden Opern finden sich heute noch auf dem Spielplan, und "Polifemo" ist vergessen. Die Geschichte hat ihr Urteil gefällt.

 

Für heutige Ohren ist das nachvollziehbar. Der Unterschied zwischen Porpora und Haendel entspricht dem Unterschied zwischen Salieri und Mozart. Der eine ist Fabrikant, der andere Genie. Der eine arbeitet mit Leisten, der andere mit Inspiration. Der eine ist voraussehbar, der andere über­raschend. Der eine ist steril, der andere fruchtbar. Der eine tot, der andere lebendig.

 

Mit schuld ist vielleicht das veknäuelte Libretto von Paolo Antonio Rolli. Es kombiniert für "Polifemo" Ovids "Metamorphosen" mit Homers "Odyssee". Mythologische Stoffe waren damals beliebt, und auch eine dem Hofgebrauch nachemp­fun­dene gespreizte Sprache, die als vornehm galt und damit der Sphäre der Götter und Heroen angemessen. Statt unumwunden zu singen: "Ich liebe Sie" (I love you, yeah, yeah, yeah), mussten die Darsteller sagen: "Mein Herz dürstet nach Ihrer Seele". Ein solcher Satz genügte für eine halbe Arie.

 

Da die Engländer des Italienischen nicht mächtig waren und die Gesangsgirlanden ohnehin die Textverständlichkeit über­wucherten, liessen sich die vornehmen Besucherinnen von ihren Zofen auf Zettel schreiben, welche Emotion die jeweilige Nummer ausdrückte, und mit diesem Spicker wussten sie genug, um die Gesangsleistung eines Solisten zu würdigen. Die Gatten dösten derweil vor sich hin oder schielten im erleuchteten Zuschauerraum auf die hübschen Gesichter. (Die Verdunkelung wurde ja erst mit Erfindung der Elektrizität möglich.)

 

In Strassburg und Lille ist das Verständnis der Handlung dadurch erschwert, dass die Inszenierung der historisch streng informierten Musik- und Gesangspraxis durch ein zeitgeistig-oberflächliches Arrangement widerspricht. Bruno Ravella, der Regisseur, setzt die Oper in eine Filmaufnahme. Der Darsteller des Regisseurs (José Coca Loza) wird zum furchtbaren Riesen Polifemo, der Darsteller des Kulissenmalers (Franco Fagioli) zum niedlichen Hirten Aci, und die Filmdiven (Madison Nonoa, Delphine Galou, Alysia Hanshaw) kostümieren sich zu Galatea, Calipso, Nerea um. Ab jetzt interagieren auf der Bühne drei Handlungsebenen: (1) die technische der Aufnahmevorbereitung mit realen Menschen, (2) die cineastische mit gespieltem Als-ob und (3) die opernhafte mit mythologischem Stoff. Nach drei Stunden des Ineinanders ist klar: Die beiden ersten Ebenen sind überflüssig und stören bloss.

 

In seinem grossartigen, aber heute leider vergriffenen Handbuch "The Oxford Companion to Music", das immerhin ein halbes Jahrhundert lang von der Oxford University Press vertrieben wurde, hielt Percy A. Scholes fest:

 

Porpora war ein grosser Opernkomponist und ein noch grösserer Gesangslehrer; viele der berühmtesten Sänger des 18. Jahrhunderts waren seine Schüler. Haydn profitierte von seinem Unterricht in Wien, da er in seiner Jugend von ihm als Begleiter und Kammerdiener engagiert war. Seine Gesangsmethode ist heute verloren, aber da so viele Gesangslehrer für ihre umfassende Kenntnis der "alt­italienischen Methode" werben, kann die Gesangswelt noch immer weitergehen.

 

Und so ist es: Das Belcanto, mit dem der Kastrat Farinelli, Porporas Schüler, als Aci in "Polifemo" das Londoner Publikum zu Begeisterungsstürmen hinriss, brachte nun die Besucher der Strassburger Oper zu endlosem Beifall.

 

Das homogene Ensemble, angeleitet von der kenntnisreichen Dirigentin Emmanuelle Haïm, erlaubte die Begegnung mit einem zu recht vergessen Werk. Wenn auch die sportliche Leistung der gesanglichen Virtuosität immer wieder aufhorchen liess, überwog doch insgesamt die Langeweile. Man hätte es wissen sollen. Goethe, der in Strassburg studiert hat, schrieb: "Alles, was uns imponieren soll, muss Charakter haben." 

 

Suponierte Filmaufnahme.

Kamera, Mikrofon, Licht. 

Und glückliches Ende. 

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