Eine Zeit voll Mühe, Not, Angst und Schmerz. © Yoshiko Kusano.

 

 

Zeit für Freude. Arne Lygre.

Schauspiel.

Mina Salepour. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 5. Februar 2024.

 

> Ein Theaterabend mit herzlicher Wärme – schon nur, weil bei 16 halbkreisförmig aufgestellten Kochherden der Backofen angedreht wird. Während das achtköpfige Ensemble Menschlich-Allzumensch­liches verhandelt wie Auseinanderkommen und Zueinanderfinden, Trauern und Liebe empfinden, wird der Theatersaal vom Duft aufgehenden Gebäcks erfüllt, und Versöhnlichkeit breitet sich in der wohlgestimmten Theatergemeinde aus. Der norwegische Autor Arne Lygre hat zwar kein grosses Stück geschrieben; aber in seinem Mittelmass findet sich unsereins wieder. Alle Menschen werden Brüder! Diesen Kuss der ganzen Welt! <

 

In erzählender Form entwirft Marcel Proust in seiner "Recherche du temps perdu" bekanntlich ein Gemälde der Pariser Gesellschaft zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende. Der erste Band führt ins Haus der Grosseltern auf dem Land. Der letzte – im "Temps retrouvé" – in den Hauptstadtsalon der Princesse de Guermantes. Die Leute äussern sich über die Dinge, die sie bewegen, und im Spiegel einer weit abgelegenen Kultur erkennen wir, dass Arthur Schopenhauer recht hatte:

 

Das Leben stellt sich dar als ein fortgesetzter Betrug, im Kleinen wie im Grossen. Hat es versprochen, so hält es nicht; es sei denn, um zu zeigen, wie wenig wünschenswert das Gewünschte war: so täuscht uns also bald die Hoffnung, bald das Gehoffte. Hat es gegeben; so war es, um zu nehmen. Der Zauber der Entfernung zeigt uns Paradiese, welche wie optische Täuschungen verschwinden, wenn wir uns haben hinäffen lassen. Das Glück liegt demgemäss stets in der Zukunft oder auch in der Vergangenheit, und die Gegenwart ist einer kleinen dunklen Wolke zu vergleichen, welche der Wind über die besonnte Fläche treibt: vor ihr und hinter ihr ist alles hell, nur sie selbst wirft stets einen Schatten.

 

Diese condition humaine schildert nun auch der norwegische Autor Arne Lygre in gesprochener Form. In seinem Stück "Zeit für Freude" vernimmt das Publikum: "Eine Frau sagt: ....", "Ein Nachbar sagt: ....", "Ein Vaterloser sagt: ...". Und wie bei Schopenhauer zeigt sich: Frau, Nachbar, Vaterloser und alle andern haben wie wir

 

eine Spanne Zeit zu leben, voll Mühe, Not, Angst und Schmerz, ohne im mindesten zu wissen, woher, wohin und wozu. Dazu kommt noch dieses: Wir sehn einander an und verkehren miteinander – wie Masken mit Masken, wir wissen nicht, wer wir sind – aber wie Masken, die nicht einmal sich selbst kennen. Und ebenso sehn die Tiere uns an, wir sie.

 

Bei einer Bank am Flussufer und in einer Wohnung kommen die Masken zusammen. Im Austausch erkunden – und verbergen – sie ihre Befindlichkeit. Das Leben erscheint da als etwas voll­kommen Fragwürdiges und Ungesichertes. Doch indem sich Regis­seurin Minah Salehpour für einen artifiziellen Spielstil entscheidet, kann sie dem Pessimismus von Stück und Philo­sophie eine mächtige Antithese entgegensetzen und der "Zeit für Freude" Raum geben. Wer vom Ensemble gerade keinen Text vorzutragen hat, verarbeitet neben den Kollegen an langen Tischen Mehl zu Teig und Teig zu Brötchen, die in 16 Öfen während der Vorstellung wohlduftend aufgehen und am Ende im Publikum zur Verteilung kommen.

 

Damit bestätigt die uralte Kulturtechnik des Backens und des geteilten Brots Schopenhauers Beobachtung:

 

Nur die echten Werke, welche aus der Natur, dem Leben unmittelbar geschöpft sind, bleiben wie diese selbst ewig jung und urkräftig. Denn sie gehören keinem Zeitalter, sondern der Menschheit an: so können sie auch nicht ver­alten, sondern sprechen auch in der spätesten Zeit immer noch frisch und immer wieder neu an.

 

Durch die Mischung des Ephemeren mit dem Elementaren kann Regisseurin Minah Salehpour ihre eingebackene Philosophie zu genussreichem Verzehr anbieten, und alle können sie schlucken.

 

Der Erfolg der Produktion verdankt sich auch dem gut geführten, einheitlichen Ensemble. Nur eine Position ist sprecherisch schwach; der Rest gut bis sehr gut; und ein Darsteller überragend: Kilian Land. Für seine Diktion gebührte ihm längst ein Ehren­preis vom Kulturausschuss der Berner Burgergemeinde (in Paris wäre ihm die Légion d'honneur sicher), und während man würdigt, wie fein er sich mit Gesicht und Körper ausdrückt, verstärkt sein Können von Produktion zu Produktion die Furcht, dass er Bern bald verlassen könnte. In Wien wäre ihm die Josefstadt sicher; und in Paris die Comédie-Française. Damit zeigt sich: Die Zeit für Freude ist begrenzt. Man packe sie.

 

An langen Tischen Teig zu Brot verarbeiten. 

 
 
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