Die Banalität des Bösen. © Florian Spring.

 

 

Die Physiker. Friedrich Dürrenmatt.

Komödie.

Matthias Spaan, Anna Armann, Dominique Steinegger. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 4. Februar 2024.

 

> Das Regieteam hat Dürrenmatts Anweisungen ignoriert. Der Autor des (je nach Jahr der Erhebung) auf der ganzen Welt meist- oder zweit- oder drittmeistgespielten Stücks vertrug Aufführungen nicht, in denen das Spiel der Theaterleute unecht war. Er sagte dann in seinem klangvollen Berndeutsch: "Si hei theateret." Er meinte das nicht als Kompliment, denn: "Ich beschreibe Menschen, nicht Marionetten." Klamauk war ihm zuwider. Darum wies er an: "Man spiele den Vordergrund richtig, den ich gebe. Der Hintergrund wird sich von selber einstellen." Was herauskommt, wenn sich ein Ensemble über den Rat des alten, hocherfahrenen Theaterhasen hinwegsetzt, zeigt nun das Schauspiel Bern. "Die Physiker" werden zu einer schrägen Veran- und -unstaltung, auf die das Wort "daneben" zutrifft – mehr nicht. <

 

Dramentechnisch betrachtet, tragen zwei Säulen "Die Physiker": (1) die bis auf die alten Griechen zurückgehende Verschmelzung von Zeit, Ort und Handlung und (2) das im klassischen deutschen Sprechtheater seit Lessing und Kleist praktizierte Spiel mit den Wendungen. Die Handlung, sagt die Regieanweisung zum ersten Akt, ereigne im "Salon einer bequemen, wenn auch etwas verlotterten Villa des privaten Sanatoriums 'Les Cerisiers' ". Für den zweiten Akt wird vermerkt: "Eine Stunde später, der gleiche Raum."

 

Bei diesem strikten Spiel mit den klassischen drei Einheiten liegt, immer noch dramentechnisch betrachtet, der Reiz und die Spannung in den Wendungen, welche Konversation und Handlung nehmen. Sie schaffen alle paar Minuten eine neue Situation. Das Publikum muss deshalb sein Bild immer wieder korrigieren. Auf diese Weise bleibt es unterwegs, bis die Komödie die "schlimmstmögliche Wendung" genommen hat und erstarrt: "Nun sind die Städte tot, über die ich regierte, mein Reich leer, das mir anvertraut worden war, eine blauschimmernde Wüste, und irgendwo um einen kleinen, gelben, namenlosen Stern kreist, sinnlos, immerzu, die radioaktive Erde."

 

In den "21 Punkten zu den Physikern" schreibt Dürrenmatt: "Träger einer dramatischen Handlung sind Menschen." Hier liegt die Herausforderung. Die Schauspieler werden alle paar Minuten in eine neue Situation bugsiert, auf die sie mit Änderungen von Stimmung und Ausdruck reagieren müssen. Das macht die Dürrenmatt-Rollen dankbar, ergiebig und anforderungsreich.

 

Doch nun stehlen ihnen im Berner Schauspiel Regie und Bühnenbild die Show. Lange bevor die "schlimmstmögliche Wendung" eintritt, kippt schon, spektakulär und knarzend, Anna Armanns Salon zur Seite. Unsichtbare Kräfte ziehen ihn hoch, und unter den schwarzen Rückwänden der Kulisse erstreckt sich das Niemandsland der Bühne im wabernden Dampf. In dieser Leere verkündet die Anstaltsleiterin Mathilde von Zahnd unter Beimischung von Hall ins Mikrofon, dass sie sich mit Hilfe der Theorien ihrer Insassen die ultimative Macht über den Globus angeeignet habe. Newton: "Es ist aus." Einstein: "Die Welt ist in die Hände einer verrückten Irrenärztin gefallen." Möbius: "Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden."

 

Die grosse Rolle der Doktorin hat Dürrenmatt der grossen Therese Giehse zugeeignet, die sie am 20. Februar 1962 bei der Uraufführung im Schauspielhaus Zürich verkörperte. In Bern versucht Isabelle Menke gar nicht erst, in ihre Fussstapfen zu treten, sondern gibt die jungfräuliche Mathilde so unscheinbar und gewichtslos, als müsse sie Hanna Arendts These von der "Banalität des Bösen" unter Beweis stellen. Sie erscheint auch nicht mehr, wie von Dürrenmatt bezeichnet, als "Frl. Doktor", sondern, politisch korrekt, als "Frau Doktor".

 

Die Rollen der "Oberschwester Marta Boll" und der "Kranken­schwester Monika Stettler" werden zusammengelegt und in Gender­umkehr Jonathan Loosli anvertraut, der (ein Grenzfall fürs korrekte Empfinden) unter Verwendung der Tuntenklischees einen schwulen "Pfleger Peter Stettler" gibt. Zu Möbius: "Ich bin da, dir zu helfen, mit dir zu kämpfen, der Himmel, der dir Salomo schickte, schickte auch mich. Liebster. Bist du nicht froh?"

 

Vanessa Bärtsch, die in "La Strada" gendergerecht den Zampano spielte, darf in Mathias Spaans Inszenierung, in gleichem Masse gendergerecht, in der Physikerrunde den Newton geben. Alle drei Anstaltsinsassen belässt Kostümbildnerin Dominique Steinegger in weissen Slips, deren Schlitz durch ein schwarzes Bördchen kokett hervorgehoben wird. Möglicherweise dachte das Regieteam, die Gattungsbezeichnung Komödie sei mit Unterhosen und nackten Beinen gekoppelt. Haha. Selten so gelacht.

 

Während nun auf der Bühne mit Feuer und Rauch, Heben und Kippen die grossen Mittel eingesetzt werden, bleiben die Schauspieler ihren Parts alle Feinheiten schuldig. Nicht nur missachten sie den Stil des psychologischen Kammertheaters, nicht nur verweigern sie ihren Rollen jede Entwicklung, sondern sie bemühen sich auch von der ersten Minute an um die falschen Töne, als verlange die Gattungsbezeichnung Komödie Kasperleallüren und Klamauk. Auf diese einfältige Weise verrät die Berner Aufführung Friedrich Dürrenmatts hintersinniges Spiel mit Wahrheit und Lüge, und das Aufdecken wird zum blossen Entblössen.

 

Vom Salon ... 

... der Irrenanstalt ...

... ins Niemandsland. 

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