Hoch auf dem Balkon. © Franck Ferville/OnP.

 
 

 

Beatrice di Tenda. Vincenzo Bellini.

Opera seria.

Mark Wigglesworth, Peter Sellars, George Tyspin, Camille Assaf. Opéra national de Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. Februar 2024.

 

> Von Anfang an wirkt der Bann der Musik. Das Piano des Orchesters vereint Schönheit mit Präzision und bringt durch die Selbstverständlichkeit, mit der die Nuancen gespielt werden, Eleganz in die Partitur. Das Gleiche ereignet sich beim Chor (mit der unbezahlbaren Schönheit junger Stimmen), und bei den stimmächtigen Gesangssolisten, die nicht dröhnen, sondern gestalten. Damit wird Vincenzo Bellinis "Beatrice di Tenda" in Paris zu einer Sternstunde des Musiktheaters: "Das Höchste leisten, und in der vorzüglichsten Gattung, drückt uns gleichsam einen Souveränitätscharakter auf, gebietet Bewunderung und gewinnt die Herzen." (Balthasar Gracián) <

 

Die Oper besteht aus zwei Akten. Verfasst hat sie der zuverlässige Felice Romani, der auch für Rossini, Donizetti und Mayr Vorlagen schrieb – an die hundert insgesamt. Bei "Beatrice di Tenda" verlangt die Besetzung die klassische Vierzahl: (1) Prima donna, (2) seconda donna, (3) primo uomo, (4) secondo uomo. Dazu noch (5), was das deutsche Theater vormals "utilité" nannte: kleine ergänzende Nebenrollen (im englischen Sprachraum: "fifth business") und, natürlich, einen Chor.

 

Dieses bewährte Geflecht wird nun – da es sich bei "Beatrice" um eine ernste Oper handelt (opera seria) – konsequent bachab geschickt. Die Beziehungen werden vergiftet, die Liebe verwandelt sich in Hass, die Guten werden vernichtet, das Böse siegt. Bühnenbildner George Tyspin zeigt das an, indem er die erste Szene auf einem Balkon ansiedelt. Er markiert die Höhe, von der die Menschen hinunterfallen werden.

 

Daneben ist das Bühnenbild als Kippfigur gestaltet: Die Herrschaften bewegen sich in einem französischen Garten, also in geometrisch angeordneter Natur. Doch das Laubwerk erweist sich als Verkleidung. Dahinter steht die stählerne Mechanik der Macht. Sie funktioniert durch ein kunstreiches Arrangement namens Recht. Indem sich aber das Recht durch die Macht in Dienst nehmen lässt, verrät es seine Natur und wird zu Unrecht.

 

Das Kostüm (Camille Assaf) zeigt die pervertierten Verhältnisse an: Wer am Schluss sauber dasteht, ist schmutzig. Und wer sich, blutig, geschunden und gebrochen, nicht mehr aufrechthalten kann, ist rein. So wird "Beatrice di Tenda" vom Konflikt zwischen zwei widersprüchlichen Rechtskonzepten geprägt: dem Recht der Justiz einerseits, dem Recht des Gewissens anderseits.

 

Heute, wo es Vincenzo Bellinis vernachlässigtes Werk am 9. Februar 2024 (191 Jahre nach der Uraufführung an der Fenice) auf die Bühne der Pariser Nationaloper schaffte, zeigt sich, einmal mehr, die unheimliche Aktualität der Klassiker. Man könnte auch sagen: Die Zeitlosigkeit ihrer Analyse. "Welt bleibt Welt", sagte Luther, "das heisst: des Teufels Braut".

 

Zurückgenommen in den Mitteln (die Oper spricht für sich) arbeitet Regisseur Peter Sellars mit minimalen, aber schmerzhaft klaren Zeichen. Damit tritt der Gehalt des Werks unabweislich zutage – und auch der lange verkannte Reichtum der Komposition. Er liegt nicht im Äusserlichen, nicht in der Virtuosität, sondern in der inneren Wahrheit, dem Leitstern aller grossen, zeitüberdauernden Künstler. Ihn macht Dirigent Mark Wigglesworth erlebbar, zusammen mit dem Orchester, dem Chor und den Solisten Tamara Wilson (Beatrice), Theresa Kronthaler (Agnese), Quinn Kelsey (Filipo) und Pene Pati (Orombello).

 

Mark Wigglesworths Darbietung packt von Anfang an. Die Präzision der Eingangstakte eröffnet eine so leuchtende Interpretation, dass sie die konventionelle Rezitativ­begleitung zum spannenden Bogen steigert und aus ihr – o Wunder der Beseelung – Musik macht, nicht weniger schön, nicht weniger faszinierend als die eigentlichen Arien. Dergestalt kommt die Partitur in einen dynamisch fein abgestuften Fluss, in dem jede Stelle ihren eigenen Lautstärkegrad hat (stati­stisch betrachtet: dreissig anstelle der üblichen fünf).

 

Nun markiert das Fortissimo, genau bemessen, die Höhepunkte und brennt sich ein als Ereignis, bei dem Handlung und Musik ineinanderfallen. Das grossräumige Dispositionsvermögen des Dirigenten, das über zweieinhalb Stunden trägt, formt auch die Linien der Sänger in jedem Satz und in jeder Silbe. Schon vor der Pause steht die Vorbildlichkeit der Interpretation fest.

 

Dabei wird der Gipfel – Wunder der Steigerung – erst im zweiten Teil erklommen. Das Produktionsteam inszeniert das Auseinanderbrechen der Welt als Raumtheater. Der Chor steht im Rücken der Zuschauer und singt nach vorn. Später erklingen – begleitet nur von einer Harfe – drei distinkte Stimmen auf der nachtschwarzen Bühne (eine davon aus der Ferne), und beim Trauerzug vermischt sich die Bühnenmusik mit dem Orchester wie die Vereinigung von Statik und Dynamik. Unvergesslich. An der Pariser Nationaloper erweist sich "Beatrice di Tenda" als Sternstunde des Musiktheaters.

 

Auf dem Boden ... 

... der Wirklichkeit ... 

... bis zum Ende. 

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