"Was würde Gott dazu sagen?" © ADA-Théâtre.

 
 

 

Parle. Noémi Lefebvre.

Schauspiel.

Judith Bernard. Compagnie ADA-Théâtre in der Manufacture des Abesses, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 19. November 2023.

 

> Als 1809 "Die Wahlverwandtschaften" von Goethe erschienen (heute ein Muster des klassischen Stils), erblickten die Zeitgenossen darin einen nie erreichten Höhepunkt der Realitätsschilderung. Künftige Jahrhunderte, meinten sie, würden herauslesen, wie die Menschen der Epoche gelebt, gesprochen und empfunden hätten. Wenn es nun darum ginge, späteren Generationen ein Bild unserer Zeit zu übermitteln, brächte "Parle" den zuverlässigsten Ausdruck. <

 

In der Textfläche von Noémi Lefebvre, die mit "Parle" auf die Bühne kommt, werden ausschliesslich Sätze in Wir-Form gebracht. Ein Kollektiv wendet sich an eine schweigende Person. Vor ihr entblössen sich die Sprechenden durch alles, was sie sagen.

 

Je länger die Antwort ausbleibt, desto unbehaglicher fühlen sich die Sprechenden und bringen immer neue Aspekte ins Spiel, getrieben von der Angst: Denken wir das Richtige? Sagen wir das Richtige? Machen wir das Richtige? Bestehen wir vor dem Blick des angesprochenen Du?

 

Damit taucht hinter der rhetorischen Selbstentblössung die Frage auf, die Egon Friedell an drei Kernstellen der "Kulturgeschichte der Neuzeit" aussprach: "Was würde Gott dazu sagen?"

 

Zu allen Problemen der Epoche – falsche Prioritäten, Klimaerwärmung, Kriege, Artensterben, Migration – drückt das Kollektiv sein Verhältnis, seine Sichtweise und seine Hilflosigkeit aus. Je länger aber das Spiel vorschreitet, desto weniger kann sich der Zuschauer absetzen; und am Ende kommt er zur Einsicht: Du bist nicht anders als die andern – und auch nicht besser.

 

Die Inszenierung von Judith Bernard für die Compagnie ADA-Théâtre situiert das Sprachspiel in einem Landhaus. Da geht es um eine Erbteilung. Das Du ist die jüngste Tochter, welche vom Garten aus die Familie beobachtet.

 

Das Pressedossier zeigt, wie viel Gescheites Judith Bernard, eine promovierte Theaterwissenschafterin, gedacht hat. Doch der Zuschauer kann ihre Zeichen nicht entziffern. Der Produktion fehlte der Bühnenbildner, der als kritisch Mitdenkender die Verortung in konkreten Umständen einforderte. Ohne ihn erscheint die Aufführung jetzt verkopft und abgehoben. Schon Goethe aber hatte gewarnt: "Das unmittelbar sichtlich Sinnliche dürfen wir nicht verschmähen, sonst fahren wir ohne Ballast." Lerne von den Alten!

 

Es geht um eine Erbteilung. 

Das Geschehen ist entlarvend. 

Und was dazu gesagt wird, noch mehr. 

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