Die Geschichte ist in Gang gekommen. Nichts wird sie aufhalten. © Grégoire Matzneff.

 
 

 

Les Téméraires. Julien Delpech, Alexandre Foulon.

Schauspiel.

Charlotte Matzneff, Antoine Milian, Moïse Hill. Comédie Bastille, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 19. November 2023.

 

> Eine dienende Haltung. Die Schauspieler dienen den Rollen, und die Regie dient dem Stück. Und so geht es weiter: Die Verfasser des Stücks dienen den historischen Figuren, die sie auf die Bühne bringen, und die Figuren dienen der Wahrheit, die von einem ungeheuren Staats-und Militärkomplott bedroht wird. In der Comédie de la Bastille erzählt das Stück "Les Téméraires" (die Kühnen), wie der Schriftsteller Emile Zola und der Cineast Georges Méliès zur Dreyfus-Zeit den Kampf gegen den Antisemitismus aufnahmen. Ihr Einsatz führte zum berühmtesten Zeitungsartikel und zum ersten zensurierten Film der Geschichte. <

 

Bei "Les Téméraires" leisten alle das Geforderte: die historischen Figuren, die Autoren, die Regisseurin, der Bühnenbildner, der Beleuchter, der Musikgestalter, die Darsteller. Dieser Einsatz macht die Produktion zum Vorbild: ästhetisch, politisch, moralisch.

 

Die Autoren Julien Delpech und Alexandre Foulon teilen die Dreyfus-Affäre in kurze, klare, gut spielbare Szenen und stellen sie in eine gescheite, farbige Abfolge. Ein Teil der Geschichte kommt durch die Entstehung des Films auf die Bühne. Die Dreharbeiten decken die humoristische und pittoreske Ebene ab und bringen anstelle von platter Wirklichkeitsschilderung Ironie in die Angelegenheit.

 

Ernst und Mehrbödigkeit ergeben sich durch die Erweiterung der Handlung in Zolas Eheverhältnisse: Hinter dem grossen Autor steht einerseits eine starke Frau, anderseits eine kleine, bescheidene Mätresse, Mutter der beiden Kinder, die erst nach dem überraschenden Tod des Schriftstellers von der Witwe legitimiert werden.

 

Eine weitere Farbe bringt Zolas Hauptkonflikt: Fortsetzung des schriftstellerischen Werks (wie von Verlag, wirtschaftlicher Lage und Leserschaft gefordert) oder Aufnahme des politischen Kampfs (wie von Gewissen und persönlicher Überzeugung verlangt)?

 

Aus diesen verschiedenen Elementen wächst bald Spannung, und das Pathos der historischen Situation führt zu Sätzen von Schillerscher Wucht. Die Autoren müssen sie nicht erfinden, sie brauchen sie nur zu zitieren. Zola hat sie formuliert:

 

Die Geschichte ist in Gang gekommen. Nichts wird sie aufhalten.

 

Die Tat, die ich hier vollbringe, ist nur ein revolu­tionäres Mittel, um die Explosion der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu beschleunigen.

 

Ich habe nur eine Leidenschaft, die Leidenschaft für das Licht, im Namen der Menschheit, die so viel gelitten und ein Recht auf Glück hat. Mein flammender Protest ist nichts anderes als der Schrei meiner Seele. Man möge es also wagen, mich vor ein Schwurgericht zu stellen und die Untersuchung am hellichten Tag stattfinden zu lassen! Ich warte.

 

Das Stück enthält dreissig Rollen für sieben Schauspieler. Ihre Sprachmelodie gibt den überholten Singsang wieder, der das französische Theater bis 1970 charakterisierte. Das wirkt anfangs befremdlich. Doch der betonte Ausdruck entspricht dem Stil der Epoche, die auch in Kleidung und Gebaren etwas übertrieben Äusserliches, Theatralisches hatte. Stets stellte man etwas dar und etwas vor.

 

Ohne diese prinzipielle gesellschaftliche Verlogenheit, wo jedermann durch Berufskleidung, Frack und Robe eine Uniform trug, hätte sich die Dreyfus-Affäre gar nicht herausbilden können. So ist in der Comédie de la Bastille die Äusserlich­keit des Spiels keine Äusserlichkeit, sondern ein sinntra­gendes Element. Um 1900 gab es keine Authentizität.

 

Die Regie von Charlotte Matzneff ist ein Kapitel für sich. Im gescheiten Dekor von Antoine Milian löst sie, mit Unterstüt­zung des Beleuchters Moïse Hill, aus der engen Bühne tausend Facetten. Das Spiel gleitet wie geölt von einer Situation in die nächste. Die Fluidität des Ablaufs beeindruckt gleicher­massen Zuschauer und Kritiker: "Charlotte Matzneff bietet eine schnelle, spannende, millimetergenaue Inszenierung, deren Fluss den staunenden Zuschauer mitreisst." (Jean-Pierre Hané, Culture Tops.)

 

Die Filmcrew.

Der Schriftsteller.

 
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt 0