Dorftheater in Paris. © François Fonty.

 
 

 

Les Poupées persanes. Aïda Asgharzadeh.

Schauspiel.

Régis Vallée, Philippe Jasko, Aleth Depeyre. Théâtre de la Pépinière, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 19. November 2023.

 

> Das Ganze ist eine Frage der Dosierung – und damit des Geschmacks. Auf der kleinen Bühne der Pépinière, wenige hundert Meter neben der Opéra, läuft das Drama Persiens ab: Von der Unterdrückung durch den Schah bis zur Unterdrückung durch die Mullahs. Orts- und Zeitenwechsel werden von den Schauspielern durch ein ausgetüfteltes Bühnenbild im Handumdrehen vorgenommen. Aber damit ist das genaue Mass auch schon erschöpft. Im übrigen bringt das übertriebene, schlecht dosierte Spiel viele falsche Töne: Dorftheater im Herzen von Paris. <

 

Fragen des Geschmacks sind Fragen der Dosierung. Fragen der Dosierung sind Fragen der Kultur. Fragen der Kultur sind Fragen der Herkunft. Das zeigt sich schon an der unterschied­lichen Würztechnik von Orient und Okzident. Und es zeigt sich an den musikalischen Vorlieben von Deutsch- und Westschweiz. Um 1985 herum rangierte einer Umfrage zufolge die Kategorie "weiblicher Kunstgesang" im alemannischen Landesteil an unterster, im welschen aber an zweitoberster Stelle.

 

Ein ähnlicher Geschmacks-, Kultur- und Dosierungsunterschied tritt auch auf der kleinen Bühne der Pépinière, ein paar hundert Meter neben der Opéra, zutage – vorausgesetzt, dass es sich nicht bloss um ein kulturunabhängiges, banales Talent­manko handelt. Die Spielweise vieler Truppenmit­glieder ist zu gross, zu grell, zu laut. Glaubhaft wirken sie nicht. Auch nicht situationsadäquat. Sie geben und sprechen ihre Partien mit der gleichen Emphase, mit der man sich an Kleinkinder wendet. Die Psycholinguistik nennt solch betonten Singsang "motherizing". Bei ihm horchen in allen Kulturen die Säuglinge auf. Der ausgewachsene Rezensent dagegen zieht, wenn er ihn vernimmt, die Luft zwischen den Zähnen ein. Damit haben "Les Poupées persanes" von Aïda Asgharzadeh vor seinem Urteil keine Chance.

 

Die Autorin erzählt ihre eigene Geschichte und dazu noch die Geschichte ihrer aus dem Iran geflüchteten Eltern. Sie lernten sich in einer Universitätsbibliothek kennen. Doch bald wurden sie von der Landes- und Zeitgeschichte ergriffen und nach Frankreich gespült. Wie beim Matroschkaprinzip sind auf der Bühne mehrere Zeitebenen, Orte, Verhältnisse und Generationen ineinandergeschachtelt. Daher der doppeldeutige Titel "Les Poupées persanes": Als Puppen auf dem Schachbrett werden die Figuren von der Geschichte herumgeschoben.

 

Herumgeschoben werden sie auch auf den Brettern, die die Welt bedeuten, von einer Stelle zum andern und von einer Zeit in die andere. Eine eingeblendete Schriftzeile gibt an, wann und wo die Handlung gerade spielt. Dazu hüpft der Erzählfaden wie bei einem komplizierten Nähmuster mal nach vorn, mal zurück, taucht hier auf und dann wieder dort. Aïda Asgharzadeh will offensichtlich nicht eine schlichte, gut überblickbare Familien­geschichte vorlegen, die von A nach B führt und dem Zeitverlauf folgt, sondern mehr bieten, wie Christian Morgensterns ästhetisches Wiesel:

 

Das raffinier-

te Tier

tats um des Reimes willen.

 

Das raffinierte, schnell verwandlungs­fähige Bühnenbild von Philippe Jasko nimmt die Verschachtelung auf, unterstützt durch das ausgeklügelte Lichtkonzept von Aleth Depeyre und die Inszenierung von Régis Vallée. Auf der Bühne sitzt jeder Handgriff, jede Drehung, jede Verschiebung. Wenn dieselbe Genauigkeit auch die Personendarstellung bestimmen würde, könnte man von einer anständigen Aufführung reden.

 

Es bliebe freilich immer noch die verknäuelte Erzählweise. Aber die Jury, die den Molière vergibt, hat ausgerechnet Aïda Asgharzadeh mit dem französischen Theater-Oscar für die beste lebende Autorin ausgezeichnet. Wie lässt sich das Urteil erklären? Geht es zurück auf den unterschiedlichen Geschmack der Kulturen oder auf die geringe Zahl von Mitbewerberinnen?

 

Ineinandergeschachtelt ... 

... die Geschicke ... 

... perischer Flüchtlinge. 

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