Beeindruckende Live-Projektionen. © Armin Smailovic.

 
 

 

Green Corridors. Natalia Vorozhbyt.

Schauspiel.

Jan-Christoph Gockel, Julia Kurzweg, Anton Bermann, Sofiia Meinyk. Kammerspiele München.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 20. Oktober 2023.

 

> Im Dialog mit den Münchner Kammerspielen hat die ukrainische Dramatikerin und Drehbuchautorin Natalia Vorozhbyt einen Theaterabend entworfen, der sich mit vier geflüchteten Frauen beschäftigt: einer Schauspielerin, einer Nageldesignerin, einer Hausfrau und einer Rentnerin. Für das Anliegen, die Befindlichkeit von Ukrainerinnen in der Fremde darzustellen, setzt sich das Theater vorbildlich ein, kann aber, bei aller Anstrengung, die "Green Corridors" nicht in den Rang der grossen Geschichtsdramen hochschieben. <

 

Im Unterschied zu den Stücken der Dichter, die sich bis 1950 mit Geschichte befassten (von Brecht an rückwärts: Giraudoux, Shaw, Hebbel, Grillparzer, Schiller, Goethe, Shakespeare, Racine, Corneille, Euripides, Sophokles, Äschylus) funktio­niert "Green Corridors" nicht bei Zuschauern, die sich voraus­setzungslos ins Theater begeben. Die Alten formulierten die Handlung noch dergestalt, dass niemand die schottische Regio­nal­geschichte des Mittelalters zu kennen brauchte, um vom Schicksal eines obskuren Usurpators namens Macbeth gepackt zu werden. Auch die verwinkelten Verhältnisse unter der habsburgischen Dominanz im späten 13. Jahr­hundert am Vierwaldstättersee mit den Republiken Gersau, Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden brauchte im Grossherzogtum Weimar niemand zu kennen, um Anteilnahme am Schicksal eines verschlossenen, einzelgängerischen Gebirgsjägers namens Tell aufbringen zu können.

 

Bis 1950 sorgten die Theaterautoren also dafür, dass die Zuschauer der Geschichtsdramen mit eleganter Beiläufigkeit über die Verhältnisse ins Bild gesetzt wurden (die Theorie nannte diesen Teil des Dramenbaus "Exposition"), um dann durch ein "erregendes Moment“ in die Handlung hineingezogen zu werden, wo ein "Konflikt" zur "Auflösung" drängte, und zwar durch einen Umschlag (Fachwort: "Katastrophe"). 

 

Bei den "Green Corridors" indes muss das Publikum wissen, dass die Schauspielerin, die Nageldesignerin, die Rentnerin und die Hausfrau von einem Krieg an die Aussengrenzen Europas gedrängt worden sind, um Asyl zu beanspruchen. Der Ortsname "Butscha" muss dem Zuschauer geläufig sein, damit er durch das Stichwort "Matratze" an die damaligen Massenvergewaltigungen erinnert wird. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist der Hinweis angebracht: "Diese Inszenierung kann zu Trigger-Momenten führen." Bringt das Publikum aber keine Voraussetzungen mit, kann es das meiste nicht richtig einordnen.

 

Erschwerend kommt dazu, dass die "Green Corridors" zu viele Episoden mit zu vielen verschiedenen Personen aneinander­reihen, um einen einsichtigen Verlauf, einen zwingenden Handlungsgang und einen packenden Sog zu entwickeln. Nicolás Gómez Dávila gab zu bedenken: "Solange ein Buch nicht seine Aktualität eingebüsst hat, weiss niemand, ob es wichtig ist."

 

Mit der Inszenierung des Hausregisseurs Jan-Christoph Gockel, dem Bühnenbild von Julia Kurzweg, der Live-Musik von Anton Bermann und den Live-Projektionen von Sofiia Meinyk haben die Kammerspiele eingesetzt, was gut und teuer ist. Während der Aufführung lassen das Theaterhandwerk und die Aktualität des Ukrainekriegs vergessen, dass "Green Corridors" den "Ewig­keits­zug" (Alfred Kerr) nicht hat. Ist aber die Vorstellung vorbei, sind für das Stück – wie für die Tagesschau von gestern – die Weichen zum Orkus schon gestellt.

 

Die Befindlichkeit ... 

... von Geflüchteten ... 

... im Exil. 

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