Im Schattenspiel: Die unselige Begegnung der Kulturen. © Joel Schweizer.

 

 

Choc! Die Süssigkeit der Götter. Dominique Ziegler.

Schauspiel.

Dominique Ziegler. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 22. September 2023. 

 

> Die Welt ist nicht in Ordnung. Der Kapitalismus auch nicht. Die Schokoladenindustrie lebt von ungerechter Verteilung der Güter, Raubbau, Kinderarbeit, Zerstörung der Wälder, Entwürdi­gung der Indigenen. Hinter der süssen Verführung steht eine fünfhundertjährige Geschichte von Rassismus, Ausbeutung, Sklaverei, Gewalt und Mord zugunsten einer Handvoll weisser Profiteure aus angesehen Geld- und Politikerfamilien. Dominique Ziegler, Sohn des prominenten Soziologen Jean Ziegler, verkündet diese Botschaft mit der Emphase des engagierten Vaters. Seine Bühne ist aber nicht der Hörsaal, sondern das Stadttheater Solothurn. Und da sind alle auf der richtigen Seite, das heisst: der seinen. Entsprechend frenetisch fällt nach der Uraufführung der Jubel dafür aus, dass hinter der Schokolade die Blutspur denen, die nicht im Saal sassen, mit unabweislicher Deutlichkeit "aufgezeigt" wurde. Wer will behaupten, eine solche Predigt sei nicht an der Zeit gewesen? Wer reinen Herzens ist, erhebe die Hände und klatsche mit! <

 

Neunzig Jahre nach Bertolt Brecht und fünfzig Jahre nach Peter Weiss bringt Dominique Ziegler wieder ein Lehrstück auf die Bretter. Wie der kluge Gero von Wilpert definierte, hat bei dieser Gattung das Drama die Aufgabe, "die Zuschauer für ein bestimmtes politisches oder soziales Ideal zu gewinnen". Beim Lehrstück gehe es um die "abstrakt-parabelhafte Verdeutlichung einer Lehre, der die Kunstform nur noch als Mittel zur Demon­stra­tion dient".

 

Bei Theater Orchester Biel Solothurn verwendet Dominique Ziegler die Schokolade zum Objekt seiner weltanschaulichen Demon­stration. Als Mittel dient ein historischer Durchlauf, der die Wandlungen des Götter­getränks durch die Kontinente und Jahrhunderte nachzeichnet; und zwar von dem Moment an, wo die Spanier im Kontakt mit den südamerikanischen Ureinwohnern den Kakao kennen­lernten, bis zu den aktuellen Protesten der NGOs in Vevey und Genf gegen die Schokoladeoligarchen.

 

Der chronologische Ansatz führt zu einem raschen Wechsel von Kurzszenen, in denen die geschichtlichen und wirtschaftlichen Akteure sekundenschnell aufblitzen. Damit das Publikum weiss, wer vor ihm steht, müssen die Figuren einander anreden: "Monsieur le président Mitterrand", "Monsieur le ministre Colbert". Zur Verdeutlichung der Handlung dienen, "Projek­tionen, Spruchbänder, Songs und andere Verfremdungseffekte" (Wilpert).

 

Die eingeblendeten Schriftzeichen zeigen an, in welchem Jahr und an welchem Ort sich die Szenen abspielen. Die "Songs", im konkreten Fall afrikanische Lieder, drücken die Gefühlslage der Misshandelten aus. Zugleich animieren die Lieder das Publikum zum Mitsummen und Mitklatschen und schaffen auf diese Weise ein emotionales Einverständnis aller Anwesenden über die Rampe hinweg.

 

Die Verfremdungseffekte schliesslich ergeben sich durch die Spielanlage: Ein typisch schweizerisches Ehepaar, mit seinem vorgerückten Alter als Identifikationsfigur für die Solothurner Zuschauer gut geeignet, kommt verspätet zum Schokoladenmuseum. Die schwarze Kassiererin bietet den Enttäuschten eine alternative Ausstellung an, in "unserem" Museum. Da lernen die biederen Besucher die bittere Kehrseite des Business kennen.

 

Durch die Kommentare des Schweizer Paars und die Ausführungen der Schwarzen kommt ein Lern- und Erkenntnisprozess in Gang. Abgeschlossen ist er, als am Vorstellungsende das "wirkliche" Museum aufgeht und das Paar vor der geleckten Oberfläche zurückschreckt, mit der sich die Schokoindustrie der nichts­ahnenden Öffentlichkeit präsentiert.

 

Beim Auftragsstück von Theater Orchester Biel Solothurn kommen vier Sprachen zusammen (jeweils mit Übertitelung): vom alten Kontinent die Sprachen aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz, und vom afrikanischen Kontinent die der Elfenbein­küste. Die Multikulturalität erstreckt sich auch auf die Truppe: Schwarze und Weisse spielen zusammen; wobei die Schwarzen ebenfalls Weisse verkörpern (zum Beispiel Ludwig XIV.), die Weissen aber nicht auch Schwarze (damit sich der Vorwurf des Kulturalismus vermeiden lässt).

 

Die Spielstile reichen von der saftigen "Cabotinage" (Schmiere) der französischen freien Szene bis zum vornehmen Understatement des deutschsprachigen Profitheaters. Am einen Ende der Skala steht Fidèle Baha, am anderen Ende Gabriel Noah Maurer. Damit stösst in "Choc!" laut dröhnende Einförmigkeit mit fein ziselierten Aperçus zusammen. Die Mélange ist künst­lerisch einmalig und nicht ohne Reiz.

 

Dominique Ziegler hat das Ganze selber inszeniert. Vielleicht nicht die glücklichste Lösung. Denn die Eindeutigkeit, die er im Stück anstrebt, verdoppelt er durch die Spielweise in einem Mass, dass das Schwarz-Weiss der Botschaft am Ende den Grad der Simplizität übersteigt und in die Banalität mündet. Une question de goûts – man könnte auch sagen: eine Frage der Dosierung.

 

Das Anliegen, die Geschichte der Schokolade "kritisch" darzustellen, fand am Jurasüdfuss die "freundliche Unterstützung" aller namhaften Kultursponsoren: 

  • AMIS Stadttheater Biel
  • Däster-Schild Stiftung
  • Ernst Göhner Stiftung
  • Gewerkschaft Unia Biel-Seeland/Solothurn
  • Maisons Mainou
  • Migros-Kulturprozent
  • Soroptimist Club Solothurn
  • Die Spendenaktion der Freunde des Stadttheaters Solothurn
  • Swisslos-Fonds SOkultur
  • Vreni Steinegger-Schatz
  • Stiftung Vinetum

In alphabetischer Reihenfolge dokumentieren sie alle: Bei uns haben Ungerechtigkeit, Rassismus, Kapitalismus, Ausbeutung und Umweltzerstörung keine Chance!

 

Keine Chance hätte die Aufführung indes auch nicht in Paris. Bei der letzten Aufführung eines Lehrstücks am politisch hyperkorrek­ten Théâtre national de la Colline schauten sich die Kritiker auf den Presseplätzen in der Pause fassungslos an: "Es ist furchtbar!" "Ein Tiefpunkt." "Klischee auf Klischee." "Kein einziger neuer Gedanke." "Wie kann man so etwas nur zur Aufführung bringen?" "Sie sind hier eben alle viel zu nett zueinander [trop complaisant]." "Also den Rest erspare ich mir." "Bleibst du?" "Nein, ich komme auch." "Es ist peinlich. Ich darf ihm nicht begegnen." (Ihm: dem Autor und Regisseur des Stücks.) "Schreibst du darüber?" "Nein. Und du?" "Ich auch nicht."

 

So sass nach der Pause der Kritiker der "Stimme" in Paris allein in der leergeräumten Pressereihe. Bei "Choc!" in Solothurn aber passierte ihm das nicht. Da blieb er bis zum Applausjubel umgeben von seinen lieben, wohlmeinenden Kollegen mit der richtigen Einstellung.

 

Im Netz: Die Schwarzen werden versklavt. 

Im Lied: Die Gefühlslage der Misshandelten. 

 
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