Witz, Humor und Hintersinn. © Konstantin Nazlamov.

 

 

Le Chalet suisse. Le Chalet/Betli. Adpolphe Adam/Gaetano Donizetti.

Komische Opern.

Franco Trinca, Andrea Bernard, Alberto Beltrame, Mario Bösemann. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 16. September 2023.

 

> Zwei sogenannte komische Opern mit dem selben Sujet, nach­ein­ander gespielt am selben Abend, mit den selben Sängern und dem selben Produktionsteam; das Ganze serviert mit beein­druckend viel Witz, Hintersinn, Humor ... und am Ende überwiegen Jammer und Langeweile. Der Jammer erwächst aus dem Faktum, dass selbst ein Ausnahmeregisseur wie Andrea Bernard Tote nicht lebendig machen kann, nicht einmal mit Unterstüt­zung eines kongenialen Bühnenbildners wie Alberto Beltrame. Und die Langeweile entsteht durch die unrettbar platten, schablonenhaften, uninspirierten Originalwerke von Adolphe Adam und Gaetano Donizetti. Am Ende lautet das Fazit – bei aller Hochachtung vor dem Können und dem Einsatz der Truppe: Viel Lärm um nichts. <

 

Nach den ersten Takten, unter der wie üblich energischen Stabführung von Franco Trinca vom Sinfonie Orchester Biel Solothurn etwas ruppig vorgetragen, gibt der Vorhang schon den Blick frei auf Alberto Beltrames bezauberndes Bühnenbild. Es bringt ein Theater im Theater. Die hintere Kulisse ist ein Spiegel und wirft das Bild noch einmal nach vorn. So zeigt die Bühne, von Mario Bösemann vorzüglich beleuchtet, simultan die Vor- und Hinterseite des Geschehens. Auch die Rangbrüstungen sind im Finstern zu erkennen. Ein Geniestreich des Ausnahme­regisseurs Andrea Bernard.

 

Die Multiperspektivität des Eingangsbilds entspricht der Multiperspektivität der Anlage: Die Komponisten Adolphe Adam (1803–1853) und Gaetano Donizetti (1797–1848) haben für ihre Kurzopern dasselbe Drama verwendet. Bei Adam erscheint es unter dem Titel "Le Chalet" (Uraufführung 1834 in Paris), bei Donizetti unter dem Titel "Betly" (Uraufführung 1836 in Neapel). Die Handlung spielt im Appenzellerland mit seinen unverbildeten, einfachen Gemütern. Schweiz-Folklore war damals Trumpf. Schon 1801 hatte der deutsche Dichter Friedrich Hölderlin der Schwester geschrieben: "Die grosse Natur in diesen Gegenden erhebt und befriediget meine Seele wunderbar. Du würdest auch so betroffen wie ich vor diesen glänzenden, ewigen Gebirgen stehn, und wenn der Gott der Macht einen Thron hat auf der Erde, so ist es über diesen herrlichen Gipfeln." Multiperspektivität: Das kapitalistische Grossstadtpublikum der royalistischen Regeneration erholt sich in seiner Freizeit vom Zivilisationsstress an der rousseauischen Land- und Unschuldsidylle.

 

Wenn jetzt in Biel-Solothurn am selben Abend die beiden Opern hintereinander gegeben werden, zuerst die französische, dann die italienische, so benützt das Produktionsteam diesen an sich eher demotivierenden Umstand zu hochintelligentem Einsatz artistischer Multiperspektivität. Die französische Fassung wird nicht gespielt, sondern geprobt. Das Publikum blickt auf lauter Unfertiges. Themen werden nur angesungen, Arien markiert. Im Gewusel der Notenblätter, Instrumentenständer, Maquetten, den Zwischenrufen von Regisseur, Assistentin, Chorleiter, Solisten und Bühnenbildner erscheint "Le Chalet" als Versprechen, nicht als Realisierung.

 

Damit ist mit einem Wisch alle Peinlichkeit weg, die uns die alten Machwerke bereiten würden. Im Original besingen die Sennen und Sennerinnen den Tagesanbruch in Gottes herrlicher Natur. Die Pariser und Neapolitaner jedoch erblickten zur Zeit der Uraufführung die Frühsonne höchstens beim Nachhausekommen aus durchtanzter Nacht. Der Morgengesang in freier Luft war für sie ein erzkonventionelles, plumpes Kitschelement wie der Chor der Landleute in Rossinis "Wilhelm Tell". "Werktreu" lassen sich solche Nummern heute nicht mehr auf die Bühne bringen.

 

In Biel-Solothurn arrangiert Andrea Bernard die Szene deshalb als Chorprobe. Die Komik, die sich dabei einstellt, löst die Statik auf und verleiht dem Akt des Singens Würze durch Humor. Auf diese Weise trägt das Konzept bis in die Hälfte des ersten Stücks. Jetzt müsste etwas anderes dazukommen. Walther Killy sprach vom "Wechsel der Töne" (ein Hölderlin-Wort) als elementarem ästhetischem Prinzip. In Biel-Solothurn aber bleiben, der Not geschuldet, Steigerung und Wechsel aus. Denn jetzt, wo "Le Chalet", also die eigentliche Oper, Substanz liefern müsste, fällt das Soufflé zusammen.

 

Auch "Betly" trägt nicht. Aus diesem Grund mündet das geniale Konzept, vor der Pause eine Probe und nach der Pause ein fertiges Stück zu zeigen, in Jammer und Langeweile. Der Jammer erwächst aus dem Faktum, dass auch ein Ausnahmeregisseur wie Andrea Bernard Tote nicht lebendig machen kann, nicht einmal mit Unterstützung eines kongenialen Bühnenbildners wie Alberto Beltrame. Und die Langeweile entsteht durch die unrettbar platten, schablonenhaften, uninspirierten Originalwerke von Adolphe Adam und Gaetano Donizetti. Am Ende lautet das Fazit – bei aller Hochachtung vor dem Können und dem Einsatz der Truppe: Viel Lärm um nichts.

 

Schmachten. 

Leiden. 

Singen. 

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