Erzkonventionelle Sängeraufstellung. © Janosch Abel.

 

 

Iphigénie en Tauride. Christoph Willibald Gluck.

Oper.

Sebastian Schwab, Silvia Paoli, Lisetta Buccallato, Alessio Rosati. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. Mai 2023.

 

> Zum Muttertag bringen die Bühnen Bern einen furchtbaren Schmarren. Oder gibt es etwas Deprimierenderes, als einen zum Tod verurteilten Muttermörder zwei Stunden lang singen zu hören? Ja, sagt die Oper: Schaut auf die Schwester! Die muss den Bruder mit spitzem Messer auf dem Altar hinschlachten, um die Götter zu versöhnen. Auch mit Gesang. Darin liegt eben, sagt die Oper, der höhere Ratschluss. Ihm hat man sich zu beugen. Wo kämen wir sonst hin? Dagegen hat die Inszenierung keinen Einwand. - "Iphigénie en Tauride" heisst der Schmarren, und zu ihm hat Christoph Willibald Gluck eine betörende Musik geschrieben. Korruption durch die Tonspur. Sie riss am Muttertag das Berner Publikum zu Beifallsstürmen hin. Die Bärtigen am Hindukusch hätten nicht frenetischer jubeln können. Ordnung muss sein! Wer den göttlichen Willen in Frage stellt, hat im Tempel nichts verloren; auch nicht im Musentempel am Kornhausplatz. Also sagen die Angehörigen der Elite an beiden Orten ja und amen. Mein Gott! Gibt es etwas Deprimierenderes? <

 

Zehn Jahre vor der französischen Revolution, 1779, setzte sich Christoph Willibald Gluck in Paris mit "Iphigénie en Tauride" endgültig gegen Niccolò Picinni, den hochbegabten Vertreter der neapolitanischen Richtung, durch. "Die bisherigen Gegner verstummten, und selbst Picinni wurde Gluckist", erzählt Egon Friedell in seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit":

 

Die Dauphine Marie Antoinette, die für das Geistesleben ihrer Zeit viel weniger Interesse hatte als für den Spieltisch und die Schneiderin, war entzückt: Als sie eines Tages durch den Bois de Boulogne ritt, wandte sie plötzlich mit dem Ausruf "Mon Dieu, Gluck!" ihr Pferd, eilte auf den Meister zu und überschüttete ihn mit Komplimenten; das umherstehende Volk war tief gerührt und rief: "Was für eine schöne, liebenswürdige Königin werden wir einmal haben!" Noch in demselben Jahr fand der "Orpheus", der in Wien nur mässigen Beifall erzielt hatte, bei den Parisern eine begeisterte Aufnahme.

 

Das ist 250 Jahre her. Das Ancien Régime ist untergegangen. Das humanistische Gymnasium auch. Die griechischen Götter, Hauptbestandteil der Tragödie unter Ludwig XIV., feierten noch ein kurzes Revival bei Goethe. Seine "Iphigenie auf Tauris" wurde, weil Muster für das Humanitätsideal der Klassik, als Reclam-Bändchen Lektürestoff für die Prima. Doch schon die Zeitgenossen hatten andere Sorgen, als den Fluch der Atriden wiederzukäuen. In den drei Jahren zwischen 1787 von 1790 verkaufte der Göschen-Verlag von Goethes "Iphigenie" 312 Exemplare. An den damals erscheinenden "Gesammelten Schriften" des Weimaraners verlor der Verleger über 1700 Thaler (das entspricht mehr 1,7 Millionen Franken).

 

Wenn nun also "Iphigénie" heute auf die Bühne gebracht werden soll, "ist die erste, ja schon für sich allein beinahe ausreichende Regel diese, dass man etwas zu sagen habe: o, damit kommt man weit!" (Schopenhauer). Und hier liegt in Bern die Krux. Regisseurin Silvia Paoli, Bühnenbildnerin Lisetta Buccellato und Kostümbildner Alessio Rosati begnügen sich mit ideenloser, zeitgeistiger Ästhetik. Wer in der laufenden Saison am Stadttheater von Amélie Niermeyer mit "Guillaume Tell" und von Ewelina Marciniak mit der "Walküre" verwöhnt wurde, kann nur mit Enttäuschung feststellen, wie gross der Unterschied ist zwischen Etwas und Nichts.

 

Im einen Fall begegnet das Publikum sinnvoller Darsteller­führung bis in die Fingerspitzen. Arbeit mit Blickbeziehungen und Diagonalen. Das Ganze eingefasst in ein Konzept, welches den Szenen nicht nur Halt gibt, sondern Bedeutung. Und zwar eine eigene, neue, weiterführende. Umgekehrt verhält es sich mit dem Klischee. Klischee ist, was alle sagen, alle denken, alle tun. In Bern bringt "Iphigénie" fürs Auge nur Klischees, und dahinter für den Kenner die altbackene, konventionelle Sängeraufstellung. Mit aufgehübschter Theaterroutine ersetzt das Produktionsteam die ehrliche, tiefe Auseinandersetzung mit einem problematischen Werk.

 

Theaterroutine auch bei den Sängern. Dauernd im Forte, verschmähen sie, ihre Linien auf Sinn anzulegen. Hugues Cunéod, der legendäre Tenor (Abschiedsvorstellung als Kaiser in "Turandot" von Puccini an der Metropolitan Opera New York im Alter von 85 Jahren!) war berühmt für seine stupende Textverständ­lichkeit. Auf ihr ritt er auch als Lehrer herum: "Die jungen Sänger sind verliebt in ihre Stimme. Sie wissen aber meist nicht, was sie singen. Sie nehmen weder den Sinn der Wörter wahr, noch dass da ein Komma steht und da ein Punkt." Hugues Cunéod leitete sie deshalb an, zu den Stimm­übungen die Tageszeitung aufzuschlagen: "Statt ua-ua-ua zu singen, müssen sie lernen, die Töne zu bilden, indem sie den Artikel vorlesen, der berichtet, wie die Hausmeisterin ihren Mann umgebracht hat. Ich verlange gestochen scharfe Silben, ohne das Legato zu vernachlässigen." Da liegt die Kunst. In "Iphigénie" hört man nur ua-ua-ua.

 

Aus diesem Umfeld sticht das Berner Symphonieorchester heraus. Unter Sebastian Schwab bringt es im Graben genau die schönen, weichen Töne, die man auf der Bühne vermisst, und es formu­liert eine farbenreiche, intelligente Klangrede, die zeigt, wohin sich die Produktion hätte entwickeln sollen. Jetzt erblickt das Publikum das gelobte Land nur, wenn es seine Aufmerksamkeit auf die Instrumente richtet. Den Rest muss es vergessen.

 

Klischee ist ... 

... was alle tun ... 

... und denken. 

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