Verschmelzung der Dimensionen. © Klara Beck.

 

 

Das Märchen vom Zaren Saltan. Nikolai Rimsky-Korssakow.

Oper.

Aziz Shokhakimov, Dmitri Tcherniakov, Gleb Flishtinsky.

Opéra national du Rhin, Strassburg.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 8. Mai 2023.

 

> 2019 wurde Strassburg "Opernhaus des Jahres". Die Sprecherin der Oper sagte damals: "Wir sind sehr glücklich und sehr stolz." Bei der Dankesrede erklärte der stellvertretende Geschäftsführer, Ziel der Oper sei es, konstant künstleri­sche Exzellenz zu zeigen. - Heute ist augenscheinlich, dass die Spielstätte ihre Flughöhe hat halten können. Die Rheinoper zählt jedes Jahr mehr als zweihundert Aufführungen mit über hundert­tausend Zuschauern. 21 Prozent der Besucher kommen aus dem Ausland, 27 Prozent sind jünger als 26 Jahre. Jetzt hat sich der 23-jährige Taxifahrer vorgenommen, seine Freundin zum "Märchen vom Zaren Saltan" einzuladen. Die beiden werden ein Wunder erleben. <

 

Märchen richten das Krumme gerade. Am Schluss wird alles gut. Die Bösen werden bestraft, die Guten belohnt. Weil aber das Undenkbare in der Welt nicht vorkommt, müssen die Märchen Sprünge machen. Mit "Dann" und "Später" wechseln sie Zeit und Ort und zeigen, wie der Held vorangekommen ist. Unterwegs erfährt er den Beistand höherer Wesen, die mit Zauber­kraft imstande sind, die Natur- und Wahrscheinlichkeits­gesetze aufzuheben und dem Verlauf des Schicksals an der ent­schei­denden Stelle den richtigen Schubs zu geben.

 

Mit dieser Erzählweise erfüllen die Märchen mehrere Funk­tionen. Sie erklären das Leid, indem sie zeigen, wie es zur schlimmen Lage kam. Sie vermitteln Hoffnung, indem sie einen Höheren ins Spiel bringen, der dem Unglücklichen beisteht. Sie erfüllen Wünsche, die sich in verzweifelter Lage bilden ("Wenn nur ...!"). Sie richten die Welt so zurecht, dass sie mit den universellen Bildern übereinstimmt. Der Ausdruck stammt aus Eric Bernes Klassiker "A Layman's Guide to Psychiatry and Psychoanalysis":

 

Der Mensch handelt und fühlt nicht danach, wie die Dinge wirklich sind, sondern nach dem geistigen Bild, das er von ihnen hat. Jeder Mensch hat Bilder von sich selbst, der Welt und den Menschen um ihn herum und verhält sich so, als ob diese Bilder und nicht die Objekte, die sie darstellen, die "Wahrheit" wären.

 

Einige Bilder sind bei fast allen normalen Menschen gleich. Die Mutter ist tugendhaft und freundlich, der Vater streng, aber gerecht, der Körper stark und gesund. Wenn es einen Grund gibt, etwas Gegenteiliges zu denken, wollen die Menschen das tief in ihrem Inneren nicht glauben. Sie möchten weiterhin nach diesen universellen Bildern fühlen, unabhängig davon, ob sie dem entsprechen, was wirklich ist. Wenn sie gezwungen werden, die Bilder zu ändern, werden sie traurig und ängstlich, ja sogar psychisch krank.

 

In seiner grandiosen Inszenierung des "Märchens vom Zaren Saltan" beschreibt nun Dmitri Tcherniakov in Strassburg nicht allein den Verlauf von Nikolai Rimsky-Korssakows Oper, die Wunscherfüllung durch Wunder bringt, sondern der Regisseur setzt die Hand­lung in Kontrast mit einer Lage von stummer Ver­zweif­lung.

 

Noch bevor die Musik anfängt, spricht eine Frau das Publikum an. Sie erklärt, dass ihr autistischer Junge, der selbst­versunken mit Bleifiguren am Boden spielt, nicht begreifen kann, wo sein Vater geblieben sei. Weil er nur auf Märchen anspreche, wolle sie ihm nun die Antwort in Form eines Märchens geben.

 

Damit steht alles Folgende im Zeichen der Divergenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Wahrheit und Erfindung. Es gehört zur Grösse der Konzeption, dass die Bereiche bis zum Schluss getrennt bleiben. Während der Chor der Märchenfiguren "Hurra! Hurra! Hurra!" singt, windet sich der autistische Junge am Boden und klopft verzweifelt an die Tür, die wegführt. So beglaubigt die Inszenierung in ihrer Gebrochenheit die Bemerkung Nicolás Gómez Dávilas: "Das Kunstwerk ist der einzige definitive Sieg."

 

Vier Dimensionen lässt Dmitri Tcherniakov ineinander spielen: 1. Das Märchen, das die Oper erzählt. 2. Das Märchen, das die Mutter erzählt. 3. Das Märchen, das die Aufführung erzählt. 4. Das Märchen, das sich im Kopf des Jungen abspielt. Mit dieser Verschachtelungstechnik verwirklicht sich im alten Haus der Strassburger Rheinoper ein berauschendes, nie gesehenes, mehrdimensionales Raumtheater.

 

Der Zuschauerraum öffnet sich zum Jenseits. Von dorther kommen die Figuren und schreiten auf Rampen über die Sitzreihen hinweg zur Bühne. Dann wird der eiserne Vorhang, der hier ein goldener ist, hochgezogen, und die Striche, die der Junge auf die Wand malt, wachsen aus zum bewegten Bild. Es zeigt Wellen, Gesichter, eine Stadt, ja sogar lebendige, dreidimensionale Menschen ... und nun geht der Junge zu ihnen hinüber und wird selber Bestandteil des jenseitigen Bilds.

 

Auf diese Art realisiert sich im "Märchen vom Zaren Saltan" die Übergänglich­keit des Traums als szenisches Geschehen von unauslöschlicher Leuchtkraft (Video und Lichtgestaltung Gleb Flishtinsky). Psychologisch aber bildet die Mehrdimensio­na­lität einen Resonanz­körper, der durch seinen Nachhall die komplexen Beziehungen in Werk und Aufführung auf neuartige, intensive Weise erfahrbar macht.

 

Natürlich sind in Strassburg alle Stimmen exzellent. Anrührend der Junge (Bogdan Volkov), imponierend der Vater, Zar Saltan (Ante Jerkunica), menschlich warm die Mutter (Tatiana Pavlovskaia), und, durch alle hindurchstrahlend, der intensiv leuchtende, goldene Sopran von Julia Muzychenko. Beeindruckend schliesslich der stimmstarke, homogene Chor und das Philhar­monische Orchester Strassburg, seit der Spielzeit 21/22 gelei­tet von seinem 31-jährigen Chefdirigenten Aziz Shokhakimov: Klar, sauber, präzis. Und damit als Markenzeichen fürs Ganze: Substanz, nicht Grosstuerei.

 

Das Fazit des aussergewöhnlichen Abends findet sich auf der Rückseite des Programmhefts:

 

Regisseur Dmitri Tcherniakov, genialer Botschafter des russischen Theaters, nimmt sich mit seltener Sensibilität und ausgeprägtem Sinn für Psychologie dieses musikalischen Märchens an, das von einem Werk Puschkins inspiriert wurde. Er verwirklicht eine ergreifende Aufführung, die sich auf die bedingungslose Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind konzentriert und von traumhaften Video­animationen getragen wird, die in ständiger Interaktion mit den Sängern stehen.

 

Dem ist nichts beizufügen.

 

Der autistische Junge. 

Die bösen Figuren. 

Die strahlende Prinzessin. 

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