Die Kranken nehmen die Gesten der Zuwendung an. © Marlies Kross.

 

 

Alzheim. Xavier Dayer.

Musiktheater in fünfzig Bildern.

Johannes Zurl, Ludger Engels, Ric Schachtebeck. Staatstheater Cottbus.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 1. Mai 2023.

 

> Vor einem Jahr brachte es die Alzheimer-Oper von Xavier Dayer, die 2017 in Bern zur Uraufführung kam, in Cottbus zur deutschen Erstaufführung. Intendant Stephan Märki hatte sie aus der Schweiz, wo er sie in Auftrag gegeben hatte, mitge­nommen ans brandenburgische Staatstheater. Hier fand "Alzheim. Musiktheater in 50 Bildern" eine reduzierte Wiedergabe: Weniger Platz, weniger Mitwirkende, weniger Zuschauer. Im Endeffekt wirkten einzelne Details stärker, doch gingen dem Ganzen Sog, Wucht und Eindringlichkeit ab. <

 

Die Corona-Auflagen brachten Ric Schachtebeck dazu, die Spielfläche im engen Raum der Kammerbühne als Aquarium zu gestalten. Das Publikum sitzt in zwei Reihen an den beiden Längswänden der Einrichtung, gleich vor den Schauspie­lern, aber durch transparente Plastikbahnen, die bis zur Decke reichen, von ihnen getrennt; man könnte auch sagen: abgesi­chert vor der Ansteckung durch das Corona-Virus und das Elend von Alzheimer.

 

Die gewellte Folie verformt Körper und Ausdruck der Mitwirken­den und ruft jedesmal eine befremdend intensive Wirkung her­vor, wenn sich die Augen begegnen: die Augen der Zuschauer, die sich als Voyeure vorkommen, und die Augen der Kranken, die den Gesunden ins Gesicht schauen, sie aber nicht wahrnehmen und auf die Blick-Begegnung nicht reagieren. Damit wird die vierte Wand, ein theatertechnischer Begriff, auf unheimliche Weise zum Symbol. Es verweist auf die Unerreichbarkeit jener Menschen, die der Hirnzerfall aus dem Diesseits wegbefördert.

 

Die Bewegungen der Kranken sind abrupt und rätselhaft. Wie Tiere und Kleinkinder leben sie in einer eigenen Welt. Mit ihrem Benehmen drücken sie ein zielloses, fortlaufend wech­seln­des Wollen aus. Manchmal versteht man ihre Wünsche, manch­mal nicht. Immer aber möchte man ihnen zurufen: "Gib acht! Was du willst, passt nicht in die grösseren Zusammenhänge! Siehst du sie denn nicht?"

 

Meistens sind die Patienten auf der Bühne folgsam. Sie nehmen die Gesten der Zuwendung an und lassen sich führen. Aber in einzelnen Momenten treten auch Abwendung, Trotz und Aggression auf. Sie gehören ebenfalls zum Krankheitsbild, vor allem in der Spätphase.

 

Die Nähe des Publikums zu "Alzheim" auf der Cottbuser Kammer­bühne verhindert indes, dass sich der künstlerische Hauch ausbreiten kann, der das Werk an der Berner Uraufführung so ergreifend im wahren Wortsinn machte. In Cottbus ist die Bühne zu breit. Der Blick kann sie nicht umfassen. Er sieht nur die Ein­ze­l­heiten, bekommt aber nie die Totale.

 

Flossen demnach an der Uraufführung die 50 Szenen soghaft ineinander, ruckelt jetzt auf der Kammerbühne die Abfolge von einer Einstellung zur nächsten; vielleicht dem Umstand geschuldet, dass die Inszenierung ein Jahr lang auf dem Spielplan stand, aber nur zehnmal gegeben wurde; fünfmal in der letzten Spielzeit und fünfmal in der laufenden. Jetzt hat sie die Derniere. Und da kommt sie nicht zur Entfaltung.

 

Die Enge schadet auch der Komposition. Am Längsrand des Aquariums, ebenfalls abgedeckt von der Plastikfolie, spielen die Mitglieder des Philharmonischen Orchesters Cottbus unter Leitung von Johannes Zurl buchstäblich à part. Ihre Stimmen verschmelzen nicht miteinander, sie verschmelzen nicht mit der Handlung und nicht mit dem Raum.

 

Es wäre dem Werk zu gönnen, wenn es anderswo erneut zur Wiedergabe käme. Am besten unter der Regie von Ludger Engels. Er kennt sich der Welt der Zeitlosigkeit aus. Das hat er mit "Alzheim" in Bern und Cottbus bewiesen.

 

Wie hinter Glas ... 

... leben die Patienten ...

... in einer eigenen Welt. 

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