Tja. Und da wird schon gelacht. © Florian Spring.

 

 

Grand Horizons. Bess Wohl.

Schauspiel.

Roger Vontobel. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. April 2023.

 

> Die Aufführung ist nicht ganz schlecht, aber auch nicht gut. Zwei Faktoren verhindern, dass sie abhebt: Erstens das Stück, zweitens die mangelnde Erfahrung des Ensembles mit dem Genre. "Grand Horizons" ist Boulevard von der schwachen Sorte. Viel Schaumschlägerei, wenig Handlung, null Spannung, keine Charaktere. Familien­knatsch mit Vater, Mutter, zwei erwachsenen Söhnen. Also Kitsch. Identifika­to­rische Ranschmeisse. Mit Boulevard indes ist das Berner Allround­ensemble nicht vertraut; es fehlt ihm die Übung, leere Figuren so spielen, dass man meint, sie hätten Substanz. Erfahrene Volksschau­spieler zimmern sich ein Gerüst, das so mollusken­hafte Grössen wie Papi, Mami, Dani, Jürg und Baby etc. pp. durchträgt. Ohne Metier aber kommt die Handlung nicht voran, und die Darsteller sind schlapp. Am besten verträgt den Abend, wer keine Ansprüche an gehaltreiches Schauspiel mitbringt. <

 

Vielleicht ging ja nur die Premiere daneben, und die Folgevor­stellungen werden besser. Vielleicht hat Regisseur Roger Vontobel bei den "Grand Horizons" feinste Nuancen in Ausdruck und Atmosphäre einziehen wollen, so dass man - wie bei Tschechow, wo ebenfalls nicht viel läuft - unmerklich von einem Klima ins andere gleiten sollte. Doch dann geriet die Pastellzeichnung zur Acrylmalerei, und die Aufführung wurde, vielleicht nur an der Premiere, viel zu grell, zu bunt, zu grob. Vielleicht ist die Subtilität in den Proben erreicht worden, und alle waren zufrieden. Doch dann führte eine falsch gestellte Weiche den Zug aufs falsche Gleis.

 

Die Abzweigung verursachte - vielleicht – das lachfreudige Publikum mit seinem Geblubber und Gekicher, welches anzeigte, dass es die Alterstragödie als Schwank nehmen wolle. Nach dem ersten Gluckser gaben die Schauspieler nach und griffen zum groben Pinsel. Wobei Stéphane Maeder und Heidi Maria Glössner mit ihrem stummen Spiel zur frohgemuten Auffassung beitrugen. Als frühstückendes Ehepaar eröffneten sie die Vorstellung mit Signalen, die unübersehbar auf Posse wiesen. Und weil die übrigen Mitspieler bei ihren Auftritten nicht Gegensteuer gaben, sondern die Inszenierung mit der Spielweise "zu laut", "zu grell", "zu schnell" resolut auf die Burleske hindrängten, blieb sie bis zum Vorstellungsende in der Komik stecken. "Grand Horizons" also: Vereinsabend, nicht Tschechow.

 

Vielleicht wird das Spiel an den Folgevorstellungen differenzierter. Vielleicht waren die Proben einfach noch nicht ausreichend, um den einzelnen Figuren Nuancen zu geben. Es könnte sein, dass die Mitglieder der Truppe, die sich auch als Künstler verstehen, nach der missglückten Premiere anfangen, den Fuss vom Gaspedal zu nehmen und ihre Parts in Richtungen zu entwickeln, die an den Schablonen einen Schimmer von Menschlichkeit und Charakter aufscheinen lassen. Wobei da (Stéphane Maeder ausgenommen) noch viel Arbeit zu tun ist.

 

Jede Figur hat ihren grossen Auftritt. Mit ihm würden heute die Ensemblemitglieder noch vor den Experten der "Diskothek" von Radio SRF 2 durchfallen: Sie haben nur ein Tempo, eine Intensität und eine Lautstärke. Die Kunst aber beginnt mit der Abstufung. Dafür muss man den sprecherischen Parcours so sensibel und genau anlegen wie ein Opernsänger seine Arie: Wo beschleunigen, wo verlangsamen? Wo lauter werden, wo leiser? Wo atmen? Wo welche Gebärde, wo welchen Ausdruck zeigen? Und das Schwierigste ist, dass das Ganze in jeder Einzelheit Sinn haben muss. Da ist noch viel Arbeit zu tun (Stéphane Maeder ausgenommen). Angesichts dieser Sachlage kann das Theater natürlich sagen: Dafür sind wir nicht ausgestattet. Wir machen Blasmusik, nicht Kunstgesang. Dann bleiben die Folgevorstel­lungen auf dem Niveau der Premiere. Die Leute haben sich ja unterhalten. Verlangt jemand mehr?

 

"Grand Horizons" funktioniert nach dem Prinzip der Fusion. So nennen die Psychologen einen Wahrnehmungsvorgang, dessen Mechanismus sie der Sinnesphysiologie entlehnt haben: "Fusion nennt man die von der Grosshirnrinde geleistete Verschmelzung der von beiden Augen aufgenommenen Bilder zu einem einzigen Eindruck." Ein Gegenwartsstück, das im Familienmilieu handelt, verschmilzt folglich fürs Publikum fast unweigerlich mit seinen eigenen Gefühlen, Ängsten, Träumen, Erfahrungen zu einem Konglomerat, das ihm erlaubt, sich selber auf der Bühne zu erleben und die Bestätigung davonzunehmen: Ja, so geht's auf der Welt zu!

 

Diese Tendenz verstärkt das Berner Schauspiel, indem es das englische Stück, übersetzt von Lynn Takeo Musiol und Christian Tschirner, durch Gerhard Meister in eine schweizerdeutsche Fassung bringen lässt. Nun sprechen die Leute wie wir, und nicht wie Leute auf der Bühne. Einziger Schönheitsfehler: Das Brüderpaar, verkörpert von Jonathan Loosli und David Berger, spricht zwei unterschiedliche Dialekte: Loosli Berndeutsch, Berger Baseldeutsch. Also doch nicht ganz wie wir. Um "Grand Horizons" gut zu finden, muss man grosszügig über derlei hinwegsehen und hinweghören. Am besten gelingt das mit Fusion. Aber schöner wäre es, wenn die Aufführung ohne Beihilfe ein Ganzes bilden würde. Und noch schöner, wenn das Berner Schauspiel dafür ein anderes Stück gewählt hätte. Denn wenn Nicolás Gómes Dávila sagte: "Wir sollten nur lesen, um zu entdecken, was wir ewig wiederlesen sollten", so bedeutet Bess Wohl's Machwerk geraubte Lebenszeit, unabhängig davon, ob sich die Aufführung an den Folgevorstellungen noch entwickelt oder nicht.

 

Im Familienstück hat ... 

... jedes seinen Auftritt. 

 
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