Jetzt richtet sich die Abwesende auf. © Joel Schweizer.

 

 

Orphée et Euridice. Christoph Willibald Gluck.

Oper.

Francis Benichou, Anna Drescher, Tatjana Ivschina, Mario Bösemann, Valentin Vassilev. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 2. April 2023.

 

> Banausisches Geständnis: Ich kann mit Christoph Willibald Gluck nichts anfangen. "Orpheus und Eurydike" ist die langweiligste Oper, die ich kenne. Aus diesem Grund kann ich die Produktion von Biel-Solothurn nicht rühmen. Sie ist zwar mutig, gescheit, anrührend, und sie hat eine Reihe von starken Momenten. Aber übers Ganze gesehen realisiert sie nur die am wenigsten langweilige Aufführung eines in meinen Augen unrettbaren Werks. Was ja, von der künstlerischen Leistung her betrachtet, auch nicht gerade nichts ist. - Selbstverständlich kann man das Geständnis auch andersherum lesen: Nicht Gluck ist für mich verloren, sondern ich für Gluck. Nun ja. Mit diesem Handikap kann ich leben. Nobody is perfect. <

 

Es ist immer dasselbe: Das Problem bei Glucks "Orpheus und Eurydike" liegt darin, dass nichts läuft. Die Handlung rückt, wie seinerzeit beim Diavortrag, nur zwischen den Bildern vor. Dann bleibt sie stehen. Zuerst sieht man, wie das Volk die tote Eurydike betrauert. Dann kommt Orpheus dazu und trägt seine Klage vor. Dann tritt Amor auf und verkündet, dass die Götter dem Hinterbliebenen den Gang in den Hades gestatten, damit er die Verblichene ins Leben zurückholen kann. Dann kommt er unten an, und die Höllengeister bellen ihn an. Dann kommt es zum Wiedersehen mit Eurydike. Und dann und dann und dann ... Die Handlung wird erzählt wie seinerzeit im Erlebnis­aufsatz für die Primarschule. Ist ein Bild erreicht, wird gesungen; in endlosen Wiederholungen; immer dasselbe. Die Übertitelungs­anlage bleibt minutenlang stehen.  

 

Auf heutige Gemüter, die schon durch PowerPoint mit Animation verwöhnt worden sind, wirkt die Statik des alten Diavortrags – und erst recht die Unbeweglichkeit der uralten Barockoper – fad. Und so legen heute die Regisseure ihre ganze Sorge darauf, dass auf der Szene immer etwas läuft, egal mit welchen Mitteln: Lichtwechsel, chorisches Schreiten, Verschiebung von Bühnenbildelementen in der Horizontalen und Vertikalen. Aber es gibt Unterschiede bei der Belebung. Die Krone gebührt – wie sich jetzt zeigt – Theater Orchester Biel Solothurn mit Regisseurin Anna Drescher, Bühnen- und Kostümbildnerin Tatjana Ivschina sowie Lichtgestalter Mario Bösemann.

 

Der Orpheus-Mythos – er reicht ins Jahr 700 vor Christus zurück – wird vom Produktionsteam (beraten durch Maximilian Hagemeyer) mit heutigen Augen gelesen. Im 20. Jahrhundert hat die Tiefenpsychologie die religiöse Bedeutung der Götter-, Heroen- und Dämonengeschichte beiseitegeschoben und stattdessen die seelische Bedeutung von Eros (Liebe), Thanatos (Tod), Hades (Reich der Schatten), Lethe (Trank des Vergessens), Elysium (Gefilde der Seligen) und Hesperiden (Bereich von Liebe und ewigem Leben) erforscht. Diese Vorstellungskomplexe kommen nun, wie die Psychologen gerne sagen, an normalen Menschen im Hier und Jetzt zur Darstellung.

 

Die Bühne zeigt also ein heutiges Wohnstudio mit Flachbildschirm, Doppelbett, Dusche, Küchenecke, Ansichtskarten an der Kühlschranktür, das Ganze ein bisschen unaufgeräumt, so dass der Ort bei allem Realismus auch zum symbolischen Lokal wird: Es drückt einerseits aus, dass hier gelebt wird, andererseits, dass die Dinge subtil angefangen haben, aus dem Ruder zu laufen.

 

Und schon beginnt Lichtgestalter Mario Bösemann, den Blick der Zuschauer zu leiten. Mit feinsten Mitteln schafft er Atmosphäre durch Schattierungen und wechselnde Farben. Die Lichtpartitur, die damit erscheint, ist der einfachen Kompositionsweise des Monsieur le Chevalier de Glück (wie er sich schrieb) punkto Differenzierung unendlich überlegen und steht damit, wie der Rest der Inszenierung, in dialektischem Verhältnis zum Werk: Gegenwart versus Barockzeitalter; Komplexität versus Simplizität; Alltagsmensch versus Heros; Psychologie versus Mythologie.

 

Regisseurin Anna Drescher schafft von Anfang an die Spannung, indem sie während des energischen Vorspiels ein eng umschlun­genes Liebespaar auf die Bühne führt. Die beiden ziehen sich im Halbdunkel aus, werfen Schuhe und Kleider von sich und landen im Bett. Jetzt schweigt das Orchester. Nach einer Weile beginnt der Wecker zu piepsen. Durch die Fenster leuchtet ein neuer Tag. Der Mann steht auf. Er drückt eine Orange aus, giesst den Saft in ein Glas und stellt die Kaffeebrühmaschine an. Das Gerät blubbert leise vor sich hin. Der Mann öffnet die Fenster. Sogleich ertönt von der Seite der Trauergesang über den Tod Eurydikes. Gleich schlägt der Mann die Fenster wieder zu. Nun ist es still. Nur der Dampf steigt über der Kaffee­maschine auf. Noch einmal wagt es der Mann, die Fenster zu öffnen. Doch wieder beginnen die Chorstimmen. Und wieder hören sie auf, sobald die Fenster geschlossen werden. Das Auf- und Zumachen der Fenster spiegelt die Ambivalenz in der Begegnung mit einer Realität, der man sich nicht aussetzen möchte.

 

Im Bett hat das Gesicht der Liegenden einen wächsernen Ausdruck angenommen. Ihre rechte Hand greift leblos in die Luft. Jetzt setzt der Trauergesang von Chor und Orchester ein. Währenddessen bereitet der Mann das Frühstück für sich und die Partnerin vor, und siehe da: Sie steigt mit langsamen Bewegungen aus dem Bett, tritt wie abwesend zum Küchentisch und gleitet unter ihn nieder. Eurydike ist da und gleichzeitig weg, anwesend und gleichzeitig unansprechbar, leidend und gleichzeitig fühllos, lebendig und gleichzeitig tot.

 

Die Szene hat hohe Suggestion, erschliesst sich aber nur durch das Programmheft-Interview:

 

Natalie Widmer: Wie übersetzt ihr die Handlung in die Gegenwart?

 

Anna Drescher: Wir haben für uns ein Setting gefunden, in dem Eurydike nicht stirbt, sondern in eine schwere Depression rutscht und somit für ihre Umwelt nicht mehr greifbar ist. Orpheus versucht nun mit aller Kraft, sie aus der Depression rauszuholen.

 

Natalie Widmer: Wie deutet ihr den Gang in die Unterwelt? Wem, wenn nicht den Furien, muss sich Orpheus stellen?

 

Anna Drescher: Sich selbst. Um sich der Situation zu stellen und sie überwinden zu können, muss er sich erst mal selbst überwinden, in seine eigene Hölle eintauchen und sich mit seinen Ängsten konfrontieren.

 

Man sieht: Die Inszenierung ist mutig, gescheit, anrührend, und sie hat eine Reihe von starken Momenten – doch evident ist sie nicht. Ohne Schlüssel, der von aussen kommt, ist sie unverständlich. Brecht hätte ein Spruchband über die Szene gezogen und den Titel modifiziert: "Orpheus und Eurydike oder das Leid der Depression". An diesem Punkt zeigt sich die gläserne Wand, die Anna Drescher in Biel-Solothurn bis jetzt noch nicht durchstossen konnte: Ihre Interpretationen sind immer tief gedacht, funktionieren aber nur partiell, weil sie zu kompliziert vorgehen: Von hinten durch die Brust ins Auge.

 

Die Partitur ist da geradliniger, und geradlinig setzt sie Francis Benichou auch um. Der zweite Kapellmeister brachte die Oper in ihrer französischen Fassung zur Premiere, nachdem Gastdirigent Jan Tomasz Adamus, künstlerischer Leiter der Capella Cracoviensis, erkrankt war. Das Sinfonie Orchester Biel Solothurn und der Theaterchor, erstklassig vorbereitet von Valentin Vassilev, vereinigten Kraft und Präzision zu einem – im Mass des Möglichen (Gluck!) – mitreissenden musikalischen Geschehen.

 

Untadelig an der Premiere Mira Alkhovik in der kleinen Rolle von Amor; alternierend mit Marie Rihane. Beide Sopranistinnen studieren noch an der Hochschule der Künste Bern, und was von dort nach Biel-Solothurn kommt, ist jedesmal eine Freude.

 

Als Orpheus brachte Juan Sancho einen hellen, geraden Tenor, mit dem er immer wieder ans Herz rührte. Französisch indes war das, was er sang, nicht. Und leider brach ihm ein paarmal die Stimme – ein Effekt, der nicht aufs realistische Regiekonzept zurückging, im Gegensatz zu den Bewegungen, mit denen Sancho einen einfachen jungen Mann auf die Bühne brachte, der es gut meint und doch dem Geschick ausgeliefert ist wie du und ich.

 

Ganz intensiv schliesslich die Verkörperung Eurydikes durch Marion Grange. Dem Haus seit 2014 verbunden, beeindruckt sie durch starke, aber nach innen gewandte Darstellungen von Frauen mit einem Geheimnis. Der leuchtende, wohltimbrierte Sopran von Marion Grange macht klar, warum Orpheus nach ihrem Verlust untröstlich war. Ich wäre es auch.

 

 

Bedrängnis.

Projektion.

Schattenarbeit.

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