Die drei Dreissigjährigen geben drei Achtzigjährige. © Florian Spring.

 

 

Die Räuber. Friedrich Schiller.

Schauspiel.

Mathias Spaan, Anna Armann. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 26. März 2023.

 

> Wenn der grosse König Salomo in seiner Weisheit riet: "Lerne von der Ameise!", so lautet die Fassung für unsere Zeit: "Lerne von den Bauingenieuren!" Ab viertem Semester beginnt für die Angehörigen der technischen Hochschulen der Ernst des Lebens. Jetzt müssen sie Projekte liefern, die realisierbar sind und Bestand haben. Dafür lernen sie, Varianten abzuwägen. Die Frage ist nicht mehr: "Liebe Kinder, was habt ihr für Ideen?", sondern: "Was kostet's, was bringt's?" Gemessen an diesem Kriterium fällt die Inszenierung der "Räuber" am Berner Schauspiel durch. Ihr Konzept beruht auf – sagen wir: drei Einfällen. Davon ist einer halbwegs neu. Aber er bringt so wenig etwas zur Erhellung des Stücks wie die zwei andern. Von Neuinterpretation kann nicht die Rede sein. - Im Bauingenieur­wesen bekämen die Berner "Räuber" deshalb die Note FX: "Die Arbeit ist ungenügend. Sie muss überarbeitet werden." <

 

Vor 30 Jahren, im September 1993, plädierte die Chefdrama­turgin des Opernhauses Zürich, den "Kuss der Salome" auf die Bühne zu bringen: "Ein Wurf!" sei das, argumentierte sie. Zwei Frauen im Altersheim, eine einstige Sängerin und eine einstige Schauspielerin, sollten sich in ihren Zimmern besuchen, um frühere grossen Rollen durchzunehmen. Wenn der Vorhang aufging, richteten sie gerade den Raum her für die Verfüh­rungs­­szene der Salome. Die Sängerin hatte die Partie auf allen Bühnen der Welt gesungen. Die Schauspielerin sprach mit impro­visiertem Spiel den Text aus dem Buch, auch die männlichen Rollen, und die Sängerin sang, summte, spielte. Vorgesehen waren Grete Heger vom Schauspielhaus Zürich und Kammersängerin Inge Borkh (New York, Bayreuth, Mailand, Wien). Doch nach ein paar Wochen schlug Frau Borkh das Comeback aus.

 

Heute nun, 30 Jahre später, siedelt Regisseur Mathias Spaan "Die Räuber" im Altersheim an (Bühne Anna Armann). Drei Schauspieler um die dreissig spielen drei Greise um die achtzig, welche deutsche Jünglinge um die zwanzig geben. Ihre eisernen Betten stehen in der Gegenwart. Das Drama von Schiller kommt aus dem Jahr 1781. Die Handlung spielt um 1750. Das ergibt drei Zeitebenen. Was bringt's?

 

Zunächst einmal: Irritation. Das Publikum muss versuchen, sich zurechtzufinden bei dem, was es vernimmt. Und da der Text nicht dem Stückverlauf folgt, sondern die Sätze neu kombi­niert - auch neu verteilt - bringt die Bühne, wie oft in eklektischen Zeiten, "Variationen zu ... (den Räubern)", bzw. "Phantasien zu ... (den Räubern)". Stellenweise hört man: "Fuck, fuck, oh shit!" Doch bitte: Was kostet's? Was bringt's?

 

Der Stoff wird als bekannt vorausgesetzt. Jetzt wird mit den Einzelmotiven gespielt. Bei der Berner Inszenierung geht es, wie die Dramaturgin Julia Fahle erklärt, um "das Männlich­keitsbild", genauer: um die "hegemoniale Definition von Männlichkeit".

 

Um die maskuline Hegemonie zu unterlaufen, beziehungsweise zu denunzieren, spielt Linus Schütz nicht nur Karl, den Räuber­hauptmann, sondern auch Amalia, die Geliebte. Umgekehrt ist der missgestaltete Franz, die Kanaille, Lucia Kotikova anvertraut. Das ist der halbe Einfall. Genderumkehr begegnet man auch in Berlin, Weimar, München, Karlsruhe, Wien ... das heisst überall, wo Deutsch gesprochen wird. Wer das Stück nicht kennt oder die Inhaltsangabe auf Wikipedia nicht nachgelesen hat, kommt ins Schwimmen. Das bringt's. Was es kostet: Die Spannung.

 

Die Inszenierung zerschlägt den feingezimmerten Bogen des Stücks. Das ist der zweite Einfall. Bei den Produktionen des deutschsprachigen Schauspiels ist das seit einem halben Jahrhundert "courant normal". Das Publikum vernimmt zwar in einzelnen Sätzen noch die Schönheit der Sprache, durch die Schiller zum Klassiker wurde, ist aber, ohne die Krücken der Vorbereitung, nicht mehr imstande, das, was es sieht und hört, einzuordnen.

 

Das Verständnis der Handlung wird zusätzlich erschwert durch die schwache Stimme von Lucia Kotikova. Bei den Vokalen I und A ist sie tonlos. Die Schauspielerin ersetzt das Fehlende durch einen Hauchlaut und sagt demzufolge "Khhhl" statt "Karl" und "hhhhch" statt "ich". Ihre Hilflosigkeit überträgt sich auf die Figur: Franz, der böse Intrigant (zu Schillers Zeit noch ein eigenes Bühnenfach) wird zum armen Hascherl. Das ist der dritte Einfall. Keine Neudeutung. Techni­sches Versagen.

 

Auch die Stimme von Linus Schütz ist aufgerauht. Mit ihr käme er schon nicht mehr an ein Landestheater. Schauspiel­leitung, wo sind die Ohren? Darf man einen jungen Schauspieler so ins Verderben laufen lassen?

 

Claudius Körber, als Kosinski glaubhaft, fällt in der Lautung zuweilen arg ins Sächsische. Macht das Sinn? Wo sind die Ohren?

 

Untadelig, nein herausragend: Kilian Land als Spiegelberg und Daniel. Nicht nur sprecherisch (das sowieso), sondern auch darstellerisch. Ihm wird man in zehn Jahren noch begegnen. Aber nicht mehr in Bern. Schade für uns.

 

Vor 29 Jahren, im Januar 1994, spielten drei Frauen miteinander den ganzen "Egmont" von Goethe im Berner Kleintheater Kramgasse 6. Zwanzig ausverkaufte Vorstellungen. "Was ist's, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist's, das man getan hat? Eben das man hernach wieder tun wird; und geschieht nichts Neues unter der Sonne." (Der Prediger Salomo 1,9).

 

Das Männertrio ... 

... mit der Frau ... 

... spielt alle Rollen. 

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