Auch das Foto hat nicht überlebt. © Moritz Schell.

 

 

Leopoldstadt. Tom Stoppard.

Schauspiel.

Janusz Kica, Karin Fritz. Theater in der Josefstadt.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. März 2023.

 

> Drei Stunden dauert die Aufführung. Bis zur Pause wirkt sie lang. Unter dem Vorwand von Familienfeiern führt Tom Stoppard viele Personen zusammen. Da kommt das übliche Kleinklein zur Darstellung. Insgesamt dreissig Schauspieler und fünf Kinder verlangt das Stück. Sie ergeben, hätte Fontane gesagt, einen Ameisenhaufen; aber kein Drama mit Spannungen, Auseinanderset­zungen, Bruchlinien, Konflikten. Doch nach der Pause erfolgt der Umschlag. Die Unerheblichkeit des ersten Teils erweist sich als notwendig, um die Immensität der Katastrophe zu verdeutlichen, von welcher der zweite Teil erzählt. <

 

Im Schauspiel "Leopoldstadt" thematisiert Tom Stoppard den österreichischen Antisemitismus von der Gründerzeit bis zur Vernichtung der Juden im Dritten Reich, und zwar, wissen­schaft­lich gesprochen, "am Objekt". Das Publikum lernt die Mitglieder einer weitverzweigten Sippe kennen, die vom maus­armen galizischen Kaftanjudentum ins assimilierte Wiener Gross­bürgertum hinüberreicht, mit seinen glänzenden Exponenten in Wissenschaft, Kunst und Medizin. Zur Zeit von Mahler, Freud und Wittgenstein stellten die Juden an der Universität Wien zehn Prozent der Studenten, aber fünfzig Prozent der Profes­soren.

 

Die Inszenierung von Janusz Kica breitet das "Who is who" nach Art des Kostümstücks aus, vom eben geborenen Säugling bis zur sterbenden Grossmutter. Die Angehörigen der Familie Merz versammeln sich im Wohnzimmer, am Esstisch und beim Klavier. Karin Fritz sorgt mit ihrem massiven Bühnenbild für den Charakter von Stabilität, wirtschaftlichem Erfolg und gesellschaftlichem Glanz. Damit ist die Fallhöhe hergestellt, die von der Euphorie der vorletzten Jahrhundertwende ("Wir leben nicht mehr im Mittelalter!") innert einer halben Lebenszeit hinüber-, bzw. hinunterführt in eine Weltwirt­schaftskrise, zwei europäische Diktaturen, zwei Weltkriege und den Genozid am Judentum.

 

Indem die Figuren Geschäfts- und Beziehungsabsichten aus­sprechen, Fotos betrachten und Erinnerungen austauschen, lernt das Publikum die Lebenden und die Gestorbenen kennen. Dabei bleibt Tom Stoppard, der britische Autor mit Jahrgang 1937, weit hinter der Konversationskunst eines Henrik Ibsen, Hermann Bahr oder Arthur Schnitzler zurück. Was man bei den grossen reali­­sti­schen Dramatikern aus leichtem, scheinbar absichts­losem Geplauder erfährt, exponiert der Brite in breiter Schul­funk­manier. Er geht, wohl nicht einmal zu unrecht, davon aus, dass er dem Publikum alles erklären müsse an Welt-, Wirt­schafts- und Gesellschaftsumständen zwischen 1890 und 1955. Die Folge ist, dass bei ihm die Leute so miteinander reden, wie sie in Wirklichkeit nie reden, nämlich im Informationsstil der Tagesschauexperten. Damit verstösst Tom Stoppard gegen das erste Bühnengebot: "Never be boring!"

 

Das durch seine Substanz bemerkenswerte Programmheft unter­drückt die Beobachtung von Gina Thomas nicht, dass "wie üblich" der Dramatiker beim "epischen, verwirrenden" Stück "mit der Passion des Autodidakten für Wissen" eingefahren sei. Aber die Autorin erklärt auch, dass Stoppards eigene Biografie den Anstoss fürs Schauspiel gegeben habe: "Er hatte die vierzig längst überschritten, als er von einer Verwandten erfuhr, dass seine vier Grosseltern sowie drei Schwestern seiner Mutter in den Konzentrationslagern ermordet worden waren." In der Tat ist Tom Stoppard unter dem Namen Tomas Sträussler im mährischen Zlin zur Welt gekommen, als Sohn der Martha Beckova und des Eugen Sträussler (damals jüdischer Betriebsarzt der Schuhfabrik Bata).

 

Zum Schock der Erkenntnis, die Stoppard hatte, führt nun auch das Stück, sobald "der Zivilist" nach der Pause die Szene betritt. Mit Eiseskälte trifft Joseph Lorenz die Anordnungen zu Arisierung des Merzschen Besitzes und Abtransport der Familienangehörigen ins Konzentrationslager. Der letzte Akt ist eingeläutet.

 

Als sich die Drehbühne in Bewegung setzt, beugt sich Günter Franzmeier mit einer Spritze als Arzt über seine Frau im Rollstuhl, und jetzt wiederholt sich, was der englische Journalist George Eric Rowe Geyde 1938 an der Habsburgergasse erlebt hat:

 

Als ich einmal die Stiegen meines Wohnhauses hinuntereilte, um Hitlers erste Rede bei seiner Ankunft in Wien zu hören, wurde ich durch Männer aufgehalten, die eben die Leichen eines jungen jüdischen Doktors und seiner Mutter fortschaf­ften. Ich kannte sie als ruhige, anständige und fleissige Hausgenossen, die seit Jahren zwei Stockwerke tiefer gewohnt hatten. Der Mann war über Nacht aus seinem Spital entlassen worden, ohne jede Hoffnung, je wieder einen Verdienst zu finden. Nazi waren in seine Wohnung einge­brochen und hatten eine riesige Hakenkreuzfahne aus dem Fenster gehängt. Da er Arzt war, war es für ihn und seine Mutter leichter gewesen zu entkommen als für andere. Eine Injektion hatte beiden die Erlösung gebracht. Die SS-Truppen, die das Lokal des Sturmkorps im Erdgeschoss übernommen hatten, grinsten voll Genugtuung, als die Leichen vorübergetragen wurden. Von meinem Fenster aus konnte ich beobachten, wie sie jüdische Passanten, meistens Ärzte, Rechtsanwälte oder Kaufleute – sie bevorzugten Ange­hörige der gebildeten Schichten – anhielten und zwangen, in der Wohnung, in der sich die Tragödie abgespielt hatte, den Boden zu bürsten, das Parkett zu wachsen und die Teppiche zu klopfen, während sie die nichtjüdische Hausgehilfin auf einem Sessel sitzend untätig zuschauen liessen.

 

Zum Gewusel der Familienfeiern vor der Pause kontrastiert die leere Wohnung am Ende des Stücks. Zwei junge Männer um die dreissig vernehmen da durch eine geflüchtete Angehörige, die als Psychoanalytikerin in New York beruflichen Erfolg gefunden hat, von wem sie herstammen, und die Namen von Emilia und Hermann, Eva und Ludwig, Wilma und Ernst, Zacharias und Stella, die das Publikum im ersten Teil der Aufführung kennenlernte, sind nicht mehr: Tot, tot, tot; ermordet in Theresienstadt, ermordet in Dachau.

 

Mit Tom Stoppards "Leopoldstadt" bringt das Theater in der Josefstadt die Katastrophe in einen Bezirk, der schon vor dem Anschluss mit Nazis durchseucht war. Der Direktor des Hauses, Herbert Föttinger, versieht die tragende und durch ihren Fortschrittsoptimismus tragische Rolle des Fabrikanten Hermann Merz. Am Ende kommt er mit den andern Verstorbenen zurück, alle im Kostüm ihrer Epoche. Er tritt nach vorn, nimmt den Applaus entgegen und verbeugt sich. Er und verschiedene weitere Mitglieder der Truppe tragen die Kippa. Bei ihrem Anblick wird man von einem letzten Schreck durchzuckt, und die Hände erstarren. Vor solcher Menschlichkeit kann man sich nur verneigen.

 

Von der Familienfeier ... 

... zum Widerstand ... 

... ins Danach. 

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