Öl heisst der neue Gott. © Marcel Urlaub / Volkstheater.

 

 

Öl! Sascha Havemann und Anne-Kathrin Schulz, frei nach dem Roman von Upton Sinclair.

Schauspiel.

Sascha Havemann, Wolf Gutjahr, Xell, Marvin Kanas. Volkstheater, Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. März 2023.

 

> Dem neuen Intendanten Kay Voges ist das Wunder gelungen, die Jugend ins Volkstheater zu bringen. Am Sonntagabend, wo "Öl!" gegeben wird, bildet sie die gesamte Zuschauerschaft. Die Aufführung stellt aber auch ein Problem dar, von dem die Alten nichts hören wollen, weil sie es selber geschaffen haben: das ölbasierte Anthropozän, Treibstoff für Klimakrise, Arten­schwund, Migrations- und Fluchtbewegungen, unzählige Kriege, Plastikberge, Feinstaubverseuchung. Die Jugend aber begegnet am Sonntagabend der Welt, in der sie leben muss, und das Theater sagt ihr mit beklemmender Deutlichkeit: "Tua res agitur!" <

 

Am Montagmorgen ist der Michaelerplatz schwarz von Leuten. Sie sind aus der ganzen Welt nach Wien geflogen, um die Herrlichkeiten der Hofburg und des Sisi-Museums zu bestaunen. Die gute alte Zeit.

 

Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit. Unsere Währung, die österreichische Krone, lief in blanken Goldstücken um und verbürgte damit ihre Unwandelbarkeit. Jeder wusste, wieviel er besass oder wieviel ihm zukam, was erlaubt und was verboten war. Alles hatte seine Norm, sein bestimmtes Mass und Gewicht. Wer ein Vermögen besass, konnte genau errechnen, wieviel an Zinsen es alljährlich zubrachte, der Beamte, der Offizier wiederum fand im Kalender verlässlich das Jahr, in dem er avancieren werde und in dem er in Pension gehen würde. Wer ein Haus besass, betrachtete es als sichere Heimstatt für Kinder und Enkel, Hof und Geschäft vererbte sich von Geschlecht zu Geschlecht; während ein Säugling noch in der Wiege lag, legte man in der Sparbüchse oder der Sparkasse bereits einen ersten Obolus für den Lebensweg zurecht, eine kleine 'Reserve' für die Zukunft. Alles stand in diesem weiten Reiche fest und unverrückbar an seiner Stelle.

 

(Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers.)

 

Derweil sieht die Wiener Jugend im Volkstheater, wie es heute um die Welt bestellt ist. Einige laufen in der Pause davon. Das, was sie mitbekommen haben, war nicht schön. Sie konnten sich keinen Reim aus den Verrenkungen machen, die das sprach­lich und darstellerisch hervorragende Ensemble vorgeführt hatte. Aber das Stilprinzip der Dissonanz, das die Bühne beherrscht, entspricht dem Zustand des Planeten. Es ist vorbei mit Harmonie, Zusammenspiel, Logik. In unserer Epoche ist alles verzerrt. Ausdruck davon sind die meisterlich schrägen Projektionen von Georg Voglers Live-Kamera und Marvin Kanas' Video Art. Sie bilden, zusammen mit der Trash-Bühne von Wolf Gutjahr, die Distorsionen ab, die unser Zeitalter markieren.

 

Von Ferne her folgt "Öl!" der Handlung von Upton Sinclairs prophetischem Roman aus dem Jahr 1927. Da gibt es Ölbarone (Vater und Sohn), Ingenieure und Arbeiter sowie arme, fromme, ahnungslose Landbesitzer. Doch Sascha Havemann erweitert die Zeiten und Orte. Seine Inszenierung reicht vom Millionen Jahre umfassenden Leben am Grund der Urmeere, der Stille der Welt in der zehntausenjährigen Epoche der Segelschiffahrt bis zur Explosion des Lärms nach Erfindung des Verbrennungsmotors und des Düsenflugzeugs. Die Handlung erzählt von der Erschliessung der Ölfelder in Florida, dem Attentat an der Opec-Konferenz in Wien und der Verschmutzung der Meere durch Öl und Plastik. Dass in diesem Kontext Xell's Musik an die Schmerzgrenze geht, ist folgerichtig.

 

Bemerkenswert an diesem Abend im Volkstheater ist, dass die Form zu Inhalt wird und der Inhalt zu Form. Doch geht bei diesem Ansatz nichts mehr auf. Ästhetik, Klarheit, Durchblick wären nicht nur verlogen, sondern falsch, der Zeit unangemes­sen; zu stark sind die Partikel durcheinandergeraten. Auf der Bühne bewegt sich das Sprachband zwischen Wienerisch, Deutsch und Englisch. Auf dem Michaelerplatz vernimmt man ausserdem noch Japanisch, Chinesisch, Italienisch, Spanisch, Portugie­sisch, Polnisch, Ungarisch und Züritüütsch. Pferdekutschen und E-Automobile bewegen sich zwischen Angeschriebenen, Tätowier­ten und Gelochten in Sneakers und Lederschuhen, Jeans und Lodenmänteln. Distorsion ist die Signatur unserer Zeit. In "Öl!" bildet sie das Volkstheater mit beklemmender Deutlich­keit ab.

 

Der Ölbaron und sein Sohn. 

Jedes Opfer für den Stoff. 

Mag die Welt untergehn. 

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