Das letzte Andenken. © Roland Ferrigato.

 

 

Jeder stirbt für sich allein. Franz Wittenbrink.

Musikalisches Schauspiel.

Josef E. Köpplinger, Dagmar Morell. Theater in der Josefstadt, Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. März 2023.

 

> Wenn man bei "Jeder stirbt für sich allein" anfängt, zwi­schen Anliegen und Ausführung zu unterscheiden, zeigt sich, dass die Aufführung von der Würde des Anliegens getragen wird. Zur Warnung vor allen Totalitarismen demonstriert das Theater in der Josefstadt an einem sogenannten Gesellschaftspanorama (mit vielen Figuren wie du und ich), auf welch verheerende Art sich die Gleichschaltung im Dritten Reich auswirkte. Mit Gewalt unterdrückten die Fanatiker, die Partei und die Regierung jede Eigenständigkeit. Zum Überleben mussten die Menschen wegblicken und mitmachen. Widerstand bedeutete Selbstmord. Früher hätte man schauen müssen. Jetzt war's zu spät. – Das Eintreten der Bühne für die zarte, heute wieder zunehmend gefährdete Pflanze Demokratie ist edel. Doch die Aufführung kommt nicht über braves Handwerk hinaus. <

 

Vorlage für das "musikalische Schauspiel" bildet ein 572 Seiten starker Roman von Hans Fallada. "Das Buch gefiel 85 % der Nutzer", vermerkt Google. Aber auch: "Rezensionen werden von Google nicht überprüft." – Für die Komposition von Franz Wittenbrink schrieben Susanne Lütje und Anne X. Weber das Libretto (angeregt von Herbert Föttinger, dem Direktor des Theaters in der Josefstadt). Und damit ist auch schon festgelegt, wie das Ganze aussieht.

 

Der Roman ist reduziert auf einen Bilderbogen: Belebte Strasse, stille Strasse, Wohnung, Hof, Bar, Kommissariat, Seeufer. Die Orte werden verbunden mit einem Datum im Jahr 1940. An ihm kann man ermessen, wie schnell die Linie für die sympathischen Figuren (allesamt Zivilisten – vom Kleinganoven über den Familienvater bis zum Filmstar, vom braven Mädel über die Hausfrau bis zur Barbesitzerin) abwärts führt, während sie für die unsympathischen Figuren (allesamt Uniformträger, Mitmacher und Angehörige des Regimes) aufwärts führt bis zum Gipfel von Sieg und Heil.

 

Der Ablauf wird indes verlangsamt durch eine Komposition für meist solistische Gesangseinlagen, unterstützt durch fünf Musiker und zehn Instrumente. Und da wird die Sache proble­matisch. Im Unterschied zur "Dreigroschenoper", der "Mutter Courage" und "Cabaret" hat der Einsatz der Musik keine Evidenz. Einerseits führen die Töne nicht zu Verfremdung (ist auch nicht nötig), anderseits dürfen sie nicht allzu betörend ausfallen, weil sie sonst durch Ästhetisierung des Nazional­sozialismus der falschen Sache dienen. So bildet das Ganze letztlich nicht mehr als ein langfädiges, ungelenkes Sing­spiel. Wird beim "Rosenkavalier" ab und zu versucht, die Musik wegzulassen und die Oper als Schauspiel zu geben, so drängt sich dieser Gedanke bei "Jeder stirbt für sich allein" gerade­zu auf.

 

Josef E. Köpplinger inszeniert das personenreiche Stück in der Art, wie gestandene Theaterhandwerker personenreiche Stücke inszenieren: Ohne Schnickschnack und doppelten Boden. Er steckt die Schauspieler in ein Kostüm, das der Epoche ent­spricht (Dagmar Morell), stellt sie an einen Tisch und gibt ihnen ein Requisit. Das übrige leistet die Geschichte zusammen mit der Kunst des Darstellers. Und in dieser Hinsicht ist die Josefstadt gut ausgestattet.

 

Es genügt, Siegfried Walther mit der Kleinstrolle von Herrn Rosenthal zu betrauen, und schon liefert er in fünf Sätzen und drei Gebärden eine Vignette des alten Juden mitsamt seinem Schicksal. Gleich prägnant Elfriede Schüsseleder als Frau Rosenthal. Die beiden Alten realisieren Schauspielkunst vom Feinsten – wie auch einzelne Junge, allen voran Claudius von Stolzmann als Enno Kluge, der bemitleidenswerte Ganove. Die Szene, in der ihm Raphael von Bargen als Kommissar Escherich die Foltermethoden der Gestapo beschreibt, von denen er selber eben gezeichnet wurde, bildet den Höhepunkt der Aufführung.

 

Das Ehepaar Quangl, Hauptfigur und Identifikationsträger, wird von Michael Dangl und Susa Meyer schön unauffällig gezeichnet. Sie geben Leute wie unsereins, wollen sich raushalten aus dem Wahnsinn der Welt und ein kleines, zufriedenes Leben führen. Doch als sie der Anstand zum Aufstand nötigt, zeigt ihr Schicksal, dass ein paar einzelne gegen ein totalitäres Regime nichts auszurichten vermögen. Früher hätte man schauen müssen. Jetzt ist's zu spät. Das ist die Lektion, die das Theater in der Josefstadt seinen Besuchern mitgibt. Die Einsicht lässt sich übertragen auf die Klimakrise, den Ukrainekrieg, das Bienensterben, das Migrationsproblem, die Ausbeutung des Meeresgrunds ... und die nächsten Wahlen.

 

Der Sohn ist gefallen. 

Aber der Sieg geht weiter. 

Zur Freude der Partei. 

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt 0