Ein Stück über das Leben. © Marcella Ruiz Cruz.

 

 

Der Zauberberg. Thomas Mann.

Schauspiel.

Bastian Kraft, Björn Sc Deigner, Sophie Lux. Burgtheater, Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. März 2023.

 

> Gespür, Genauigkeit, Eleganz. Diese Eigenschaften erklären, warum die Dramatisierung des Romans "Der Zauberberg" von Thomas Mann durch Bastian Kraft neben dem grossen Original ein Stück eigenen Ranges darstellt. Auf der Bühne fügen sich die Elemente von Handlung und Dialog, Spiel und Projektion, Bild und Bewegung zu einem überzeugenden Ganzen zusammen, das sich, wie man vor hundert Jahren gesagt hätte, tief in die Seele des Zuschauers einsenkt. <

 

Im Unterschied zum Roman ist die Bühnenfassung in keiner Minute trocken oder langweilig. Ihre Dichte verdankt die Aufführung einerseits der Erfindungskraft des Schriftstellers, andererseits der Sensibilität des Theatermanns für kluge Kürzungen. Am Ende aber formulieren Roman und Theater dasselbe Rätsel: Es ist die Frage nach dem sinnvollen Leben.

 

Thomas Mann bringt am mythischen Ort des Lungensanatoriums Berghof die grossen Themen von Gesundheit und Krankheit, Zeit und Ewigkeit, Liebe und Tod zur Sprache; dazu entwickelt Bastian Kraft auf der Bühne ein faszinierendes Spiel, das in seiner Multiperspektivität zugleich abgründig, zeitenthoben und schwerelos wirkt: "Ein reicher und interessanter Gehalt ist wohl imstande, die Stunde und selbst noch den Tag zu verkürzen und zu beschwingen". (Der Zauberberg)

 

Das Buch ruft die Figuren durch Sprache hervor; die Bühne daneben auch durch Darstellung - das heisst Verkörperung, kombiniert mit Musik, Bild, Raum und Rhythmus, kurz: Spiel mit der Zeit. Die Vielfalt der Faktoren kann, wie die Produktionen der mittelmässigen Talente zeigen, zu Zersplitterung, Wider­sprüch­lichkeit und leerer Betriebsamkeit führen. Um das zu vermeiden, braucht es beim Zusammenstellen der Elemente Gespür und Genauigkeit.

 

Die Aufgabe ist umso heikler, wenn die Schauspieler nicht nur in ein Bühnenbild eingepasst werden müssen, sondern in ein mehrfach gebrochenes Panorama von Musik (Björn Sc Deigner) und Video (Sophie Lux). Im "Zauberberg" von Bastian Kraft bewegen gefilmte Gesichter die Lippen, und gleichzeitig sprechen die Schauspieler die Worte. Das wirkt surreal und gleichzeitig virtuos.

 

Silvie Rohrer steht in der Mitte. Links von ihr erscheint das Gesicht Settembrinis, rechts das Gesicht Naphtas, beide in der Grösse der Schauspielerin. Die Projektionen stammen aus dem Computer, die Worte formuliert Silvie Rohrer live-synchron. Damit kommen drei Gesichter zur Erscheinung: Ein gegenwärtiges und zwei vergangene. Das gegenwärtige gehört der physisch anwesenden Schauspielerin, die beiden vergangenen entstammen früheren Aufnahmen von Silvie Rohrer. Sie zeigen einen bärtigen und einen bebrillten Mann. Wenn die beiden zum Duell schreiten, schrumpfen sie auf die Grösse der Schauspielerin, die sich mal dem einen, dann dem andern zuwendet, um ihm Ausdruck und Sprache zu leihen.

 

So geht es auch mit Mme Chauchat zu. Sie erinnert Hans Castorp an seine Schulhofliebe, den 13-jährigen Hippe. Nicht verwun­derlich, dass deshalb die Stimme eines jungen Mannes erklingt, sobald die schöne Frau zu sprechen beginnt. Ihr Gesicht und ihre Stimme gehören dem Schauspieler Felix Kammerer, der für die Kamera auch den schmachtenden Hans Castorp und den alten Mynheer Pepperkorn abgibt.

 

Insgesamt realisieren vier Schauspieler alle Rollen. Markus Meyer verkörpert Hans Castorp, Hofrat Behrens und die Schwester Oberin; Dagna Litzenberger Vinet spielt Hans Castorp, Joachim und Herr Albin. Stets weiss der Zuschauer, mit wem er es zu tun hat. Die Figuren werden durch Spielstil, Kontext und Aussehen definiert. Sie erscheinen auf der vielfach gebrochenen Fläche eines dreieckigen Bergs, und ihre Auftritte regelt Bastian Kraft mit Gespür, Genauigkeit, Eleganz.

 

Auf der letzten Seite des Programmhefts schreibt die Deutsche Telekom:

 

3.679.200

Minuten verbrachte Hans auf dem Zauberberg.

 

130

Minuten verbringen Sie im Theater.

 

Schalten Sie Ihr Handy stumm.

 

Dazu "Der Zauberberg":

 

"Leben ist hauptsächlich auch bloss Sauerstoffbrand des Zelleneinweiss, da kommt die schöne tierische Wärme her, von der man manchmal zu viel hat. Tja, Leben ist Sterben, da gibt es nicht viel zu beschönigen, – une destruction organique, wie irgendein Franzos es in seiner angeborenen Leichtfertigkeit mal genannt hat. Es riecht auch danach, das Leben. Wenn es uns anders vorkommt, so ist unser Urteil bestochen."

 

"Und wenn man sich für das Leben interessiert", sagte Hans Castorp, "so interessiert man sich namentlich für den Tod. Tut man das nicht?"

 

"Na, so eine Art von Unterschied bleibt da ja immerhin. Leben ist, dass im Wechsel der Materie die Form erhalten bleibt."

 

Am Burgtheater behält "Der Zauberberg" von Thomas Mann im Wechsel der Materie seine Form, und bearbeitet von Bastian Kraft senkt er sich, wie man vor hundert Jahren gesagt hätte, tief in die Seele des Zuschauers ein.

 

Die Menschen im Schnee ... 

... vom Leib bedrängt ... 

... und den Mitpatienten.

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