Man hört nicht alles gleich scharf. © Susanne Hassler-Smith.

 

 

Mehr als alles auf der Welt. Suzanne Andrade.

Schauspiel.

Suzanne Andrade, Paul Barritt. Burgtheater, Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. März 2023.

 

> Für die "Graphic Novel auf der Bühne für alle von 8 bis 108" tritt das Wiener Akademietheater (das kleine Haus des Burgtheaters) als eigene Marke auf. Mit fünf Darstellern realisiert es "Mehr als alles auf der Welt" in Koproduktion mit der Gruppe 1927. Das englische Kollektiv leitet seinen Namen vom Datum ab, in dem der Tonfilm aufkam. Seit 2005, dem Jahr seiner der Gründung, hat 1927 eine Mischung von Comic, Film und Theater entwickelt, die ihm massenweise neues Publikum zuführt. Für die Repertoirevorstellung in Wien hat sich das junge Volk "aufgebrezelt" (wie man an der Donau sagt) und begeht erhobenen Hauptes den Eintritt ins Akademietheater als "Rite de passage". <

 

Es hat schon seinen besonderen Reiz, wenn der ganze Bühnenaus­schnitt gemalte Formen wiedergibt, deren Bewegungen sich mit den Bewegungen der Schauspieler so überschneiden, dass am Ende Mensch und Zeichnung interagieren (Paul Barritt). Dann sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt: Ein Zirkuslöwe schreibt Poesie mit dem Schwanz; ein Kind fährt mit dem Rad um den Mond; eine Mutter rührt mit der Kelle in einem gemalten Topf; und ein Mann rutscht durch den Schlund eines Wals zu zwei Piraten.

 

Bei der Uraufführung von "Mehr als alles auf der Welt" von Suzanne Andrade kombinieren sich erdichtete und reale Welt gleich in doppelter Hinsicht: Zum einen ist die ganze Umgebung der Schauspieler (also Zimmer, Küche, Garten) Projektion; dreidimensional sind nur die Menschen mit ihren Kostümen. Zum andern ist die Hälfte des Dargestellten Geflunker. Es erwächst aus den Geschichten, durch die ein Strafgefangener seinen Kindern plausibel zu machen sucht, warum er nicht mehr zuhause auftaucht. Weil er aber nicht Dichter ist, fehlen den Erfindungen Substanz und Folgerichtigkeit. Deshalb bleibt am Ende nur der Schritt aus der Fantasmagorie heraus in die Wirklichkeit, so hart sie auch sei. Dramaturgisch ist bei dieser Sachlage die Schicht- und Sozialproblematik mitgesetzt.

 

Auf einer weiteren Ebene entspricht das Ineinanderfliessen von Formen und Inhalten dem Verfliessen der Zeit. Der Fluss der Zeit aber führt beim 13-jährigen Mädchen, das mit dem Vater in Briefkontakt stand, aus der Kindheit hinüber ins Erwachsenen­alter. Das erklärt, weshalb die temporeiche, farbige und lustige Geschichte, sobald man sie näher betrachtet, geprägt ist von Mehrbödigkeit und Metamorphose, kurz: britischem Understatement: "Zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer", sagt Mephistopheles.

 

Die Darsteller schlüpfen blitzschnell in verschiedene Rollen und Ausdrucksweisen, sind aber nicht immer verständlich. Untadelig sind Gregor Benner (der dem gezeichneten Buben die Stimme leiht) und Stefanie Dvorak. Andrea Wenzl und Markus Meyer werden von der Soundanlage streckenweise im Stich gelassen. Und Isabella Knöll muss sich deutlich verbessern.

 

In der Unverständlichkeit liegt die Krux, wenn Fremdsprachige wie Suzanne Andrade Regie führen und die Beteiligten mit der Produktion allzu vertraut sind. Sie werden dann nicht zwingend betriebs-blind, aber betriebs-taub. An der Comédie-Française würde die Abendregie jetzt ins Vorstellungsprotokoll schreiben: "À corriger!"

 

Die Schichtproblematik.

Der Vater ist eingelocht. 

Die Zeit erstarrt. 

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