Symmetrie als Zeichen der Konventionalität. © Florian Spring.

 

 

L'Enfant et les sortilèges. Maurice Ravel. / Iolanta. Peter I. Tschaikowsky.

Kurzopern.

Nicholas Carter, David Bösch, Patrick Bannwart. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 5. März 2023.

 

> Der Schlussapplaus für die Sänger war – zu recht – so überwältigend, dass beim Verbeugen der grosse Bassist Matheus França Freudentränen aus den Augen wischen musste. In der Tat hatte der Doppelabend im Stadttheater Bern, was die musikalische Seite betrifft, viel Bemerkenswertes, ja Beglückendes hervorgebracht. Entsprechend steigerte sich der Applaus – bei "L'Enfant et les sortilèges" noch freundlich – nach "Iolanta" zur herzhaften Ovation. Dass Bühnenbild und Inszenierung bei beiden Werken nicht über Konventionalität und leere Gefälligkeit hinauskamen, störte die Berner Opernfreunde nicht: Mit zunehmendem Alter nimmt eben die Phantasie ab, und man wird konservativ. <

 

In Tschechows "Kirschgarten" sagt der Student zum Unternehmer:

 

Weisst du, ich halte es für möglich, dass wir uns nie mehr begegnen werden, so erlaube mir wenigstens, dir zum Abschied einen Rat zu geben: Schlenkere nicht so mit den Armen, gewöhne dir diese Gewohnheit des Schlenkerns ab. Und auch das Villenbauen, das Austüfteln, wie aus Kleinsiedlern mit der Zeit selbständige Landwirte werden könnten, dies Berechnen und Kalkulieren – es ist ebenso in seiner Art nichts anderes als ein Geschlenker ... aber wie dem auch sei, ich mag dich trotzdem gern ... Du hast schmale und feine Finger wie ein Künstler, und du hast wohl auch eine feine und schmale Seele ...

 

Und so realisiert jetzt Regisseur David Bösch zusammen mit seinem Bühnenbildner Patrick Bannwart im Berner Stadttheater nicht klare, künstlerisch zwingende Vorstellungen, sondern, nun ja: Geschlenker. Bei "L'Enfant et les sortilèges" sind Spielfläche, Portal und Logenbrüstungen mit putzigen Kleinformen aus dem Spielzeugladen dekoriert, und die Erscheinungen von Teekanne, Wecker, Eichhörnchen, Frosch, die Maurice Ravel in seiner Oper auftreten lässt, ziehen auf und wieder ab, ohne dass die Sukzession einen Charakter und ein Ziel hätte: Nichts von Albtraum, nichts von Wunder, nichts von Einsicht, nichts von Läuterung.

 

Am Geschlenker mitschuld ist die Hauptdarstellerin. Amelie Baier gelingt es nicht, der zerstörerischen Kraft des unfolgsamen Kindes Gestalt zu geben. Darum wirkt sie bloss schmollend ("triebgehemmt" hätte Freud ihr Verhalten genannt), nicht lustvoll boshaft, und die Sängerin zeigt statt starken, farbigen Emotionen bloss lauwarmen Anschiss. Zum Mangel an Persönlichkeit steuert auch die schwache Stimme bei. Von der Mittellage an trägt sie nicht mehr, und in der Tiefe wird sie unhörbar.

 

Umso schöner wirken jetzt die beiden bewährten Männer Jonathan McGovern und Christian Valle, ergänzt durch Iria Arias Gomez und die ausdrucksstarke Claude Eichenberger. Die vier Hervorragenden realisieren nur Kleinstpartien; also kurze, aber gesanglich wohlumrissene Interventionen, entsprechend den schnellen Ausdruckswechseln in Maurice Ravels Meisterpartitur. Bei ihrer Umsetzung lässt das Berner Symphonieorchester unter seinem Chefdirigenten Nicholas Carter keinen Wunsch offen. Die Wiedergabe bringt die Musik sogar in die Nähe Debussys, wenn Percy A. Scholes' Beschreibung massgebend ist:

 

Die Musik von Ravel ist weniger fliessend als die von Debussy, fester in den Harmonien und in der Stimmführung, klarer in den Konturen, "klassischer", wie manche sagen würden – und "objektiver", während die von Debussy "subjektiver" ist.

 

The music of Ravel is less fluid than that of Debussy, firmer in its harmonies and part-writing, clearer in its outlines, more "classic", as some would say - more "objective", where Debussy's is more "subjective".

 

Bei Nicholas Carter vereinigen sich Klassizität und Fluidität zu einer starken, eigenständigen Interpretation. Zu ihrem Charakter passt, dass Ravel wohl den Ehrendoktor der Universität Oxford annahm, wohingegen er die Légion d'honneur zweimal ausschlug.

 

In der Regel wird "L'Enfant et les sortilèges" kombiniert mit "L'Heure espagnole", Ravels zweiter Kurzoper. In Bern aber folgt darauf "Iolanta" von Peter I. Tschaikowsky – und damit ein Sprung zurück vom 20. ins 19. Jahrhundert. Nach dem französischen Impressionismus wirkt die solide Kompositions­weise des russischen Romantikers vergleichsweise primitiv. Es geht ihm eben um nicht um technische Originalität und instrumentale Raffinesse, sondern um Gefühl, strömende Melodie, Volkstümlichkeit. Doch dann beginnt der breite, aber unter Carter nie fette Klang immer stärker zu tragen, weil die Gesangslinien auf packende Höhepunkte zusteuern und die Handlung echte Reisserqualität entwickelt.

 

Die Hauptrollen sind vorzüglich besetzt. An der Premiere erringt der grosse Bassist Matheus França den ersten Szenenapplaus. Zu recht. Nicht nur hat er ein ungewöhnlich rundes, wohlklingendes Organ: Er gestaltet auch seine Auftrittsarie zu einem sensiblen Monolog, in dem sich Zuneigung, Schmerz und Grösse rührend mischen. Szenenapplaus auch für Jonathan McGovern, den Bassbariton, den man als "Herzog von Burgund" für die männliche Hauptrolle nimmt, bis James Ley die rollenbedingte Zurückhaltung als "Freund" ablegt und seinen Tenor in starke, vibratolose, strahlende Höhen führt. Durch das Geständnis der Liebe bringt er Iolanta, wahr und ergreifend dargestellt von Verity Wingate, gesanglich und menschlich zur Entfaltung.

 

Bei diesem Fest der Stimmen ist es allerdings geraten, sich an Hugues Galls Anweisung zu halten, dem legendären Chef der Pariser Oper: "Wenn Ihnen die Inszenierung nicht gefällt, schliessen Sie die Augen. Sie bekommen immer noch erstklassige Musik." Der Rat richtet sich zwar an die Feinde des Regietheaters, ist aber auch anwendbar auf uninspirierte, geleckte Konventionalität.

 

Weil es dem Bühnenbildner Patrick Bannwart nicht gelingt, klar konturierte Räume herzustellen (beispielgebend in dieser Hinsicht war Karl-Ernst Herrmann), ist in Bern der Ort, an dem die Sänger stehen, nicht definiert, und Regisseur David Bösch kommt demzufolge bei der Darstellerführung nicht über "Aufstellung" und "Gruppierung" hinaus. Damit haben aber die Aktionen Beliebigkeit statt Notwendigkeit.

 

Der Mangel an tiefem Verständnis für Handlung und Personen führt zu Symmetrie, leeren Posen und Kaschierung der Leere durch "Eye Candies", mithin Geschlenker. "Aber den Leuten gefällt's", erklärte vor kurzem eine abgebrühte Theaterfrau, und der Applaus fürs szenische Team gibt ihr recht. Offenbar vergessen die Leute ab fünfzig, wo sie sich Premierensitze leisten können, die künstlerischen Ansprüche.

 

Die "Eye Candies" ... 

... funktionieren ... 

... für die Leute. 

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