Am der Grenze zum Inzest: Göttervater und Tochter. © Rob Lewis.

 

 

Die Walküre. Richard Wagner.

Oper.

Nicholas Carter, Ewelina Marciniak, Mirek Kaczmarek, Julia Kornacka. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 16. Januar 2023.

 

> Noch nie war Richard Wagners fünfstündige Oper "Die Walküre. Erster Tag des Bühnenfestspiels 'Der Ring des Nibelungen' ", so kurz wie an diesem denkwürdigen Abend im Berner Stadttheater, das ja nicht gerade zu den angesagten Häusern für Wagner zählt. Den Ausschlag gaben drei Faktoren: (1.) Die Spannung im musikalischen Part. Das Berner Symphonieorchester sass den ganzen Abend auf der Stuhlkante, um zu beweisen, dass es in der ersten Liga mitspielen könne, wenn es vom richtigen Dirigenten geleitet werde. Und der richtige Dirigent stand am Pult: der 37-jährige Nicholas Carter. Man braucht ihm nicht eine grosse Zukunft vorauszusagen, er hat sie schon, sofern Engagements an der Met und in Glyndebourne dafür ein Gradmesser sind. (2.) Eine gescheite Inszenierung, die vom Schauspiel herkommt und beweist, dass Wagner, wenn man ihn richtig anpackt, nicht veraltet ist, sondern modern. (3.) Eine Riege von sechs Sängern, die Bayreuth-Niveau an den Kornhausplatz bringen. Mit diesen Faktoren bereiten die Bühnen Bern allen Kennern und Freunden des Musiktheaters eine Sternstunde, der gegenüber sich manche andere Opernabende ausnehmen wie Karussellmusik. <

 

Ewelina Marciniaks Inszenierung der "Walküre" an den Bühnen Bern ist so behutsam, dass es an der Premiere nur ein einziges Buh gibt; vom säuerlichen Mann auf dem Nebensitz. Alle anderen reagieren dankbar, und einzelne, wie der König unter den Kritikern, verlassen das Haus tief beeindruckt. Die Regis­seurin hat verschiedene Momente des Dramas in ein neues Licht gestellt. Ein Beispiel: Zur Auseinandersetzung Wotans mit Fricka, der Beschützerin der ehelichen Liebe, treten neun schwangere Fricka-Figuren hinzu.

 

Ein einziger Spielzug. In seiner Ambivalenz gibt er Stoff zum Denken. Die Walküren, in der Oper insgesamt neun, sind zwar alle Töchter Wotans, entstammen aber nicht alle aus der Ehe mit Fricka, sondern aus weiteren Verhältnissen, gleich wie auch das Zwillingspaar Siegmund/Sieglinde, das die Oper im ersten Akt zur Zeugung Siegfrieds zusammenführt. Wenn also die Beschützerin der Ehe ihrem Mann ein energisches Standgericht hält, kann man dahinter auch Frustration herauslesen: "Du schwängest andere. Mich aber lässt du im Stich!"

 

Ein anderes Beispiel: Der Walkürenritt. Ewelina Marciniak inszeniert ihn als Fest der Lebensfreude. Auch hier Ambi­valenz. Aufgabe der Wotans-Töchter ist es, zur Verteidigung der Götterburg gefallene Helden auf den Schlachtfeldern einzusammeln und nach Walhall zu bringen. In diesen kriegerischen Kontext stellt die Inszenierung Glück und jugendliche Ausgelassenheit, als habe sich das Schöne, Reine und Edle aus der Welt zurückgezogen auf den "Gipfel eines Felsenberges".

 

Das Bühnenbild von Mirek Kaczmarek bringt hier, wie von Wagner verlangt, "höhere und niedere Felssteine", doch erscheinen die "Wolkenzüge, wie vom Sturm getrieben", als weisse Tuchbahn, und die "Felshöhle, die einen natürlichen Saal bildet", als Betonbunker. Man sieht: Das Team hat genau gelesen, sich dann aber gefragt: Wie würde das Wagner heute zeigen? Und so bringt es jetzt Lebensmittel und Labetrunk in Portionenbeuteln und PET-Flaschen, wie sie die Gegenwart kennt, wenn es um Versor­gung fürs "To go" geht - und "To go" ist auch das Grundthema der "Walküre", angefangen mit Wotan, der bei Wagner "der Wanderer" heisst.

 

In der Tendenz läuft die Produktion also darauf hinaus, die szenische Wiedergabe unauffällig zu machen und alle Blähungen zu vermeiden. Durch Reduktion auf kleine, unauffällige Zeichen verweist sie zwar auf das viele, das noch zu sagen wäre, schafft aber in erster Linie Raum für die Spannung zwischen den Figuren, für die elementare Wucht des Geschehens und den strömenden Kommentar der Partitur.

 

Wenn im ersten Akt Siegmund und Sieglinde zusammenkommen (Marco Jentzsch mit einem schönen, biegsamen Tenor, in dem Metallisches aufscheint, Julie Adams mit einem gefühlswarmen, leuchtenden Sopran), so ist die Szene gleich gefüllt mit dem Unausgesprochenen, das die beiden unglücklichen Wesen zueinander­drängt. Und gleich ist auch zu spüren, dass die Regisseurin vom Schauspiel herkommt, wo man mit minimalen Abstufungen viel aussprechen kann. Weil die Choreographin Dominika Knapik zum Team gehört, spielt immer auch der Raum mit. Das wird erfahrbar, wenn Matheus França mit seinem schwarzen, bedrohlichen Bass als Hunding auftritt. Die Distanz, welche die drei Menschen jetzt trennt, wird beleuchtet und ausgefüllt durch ein klares, engagiertes und lebendiges Orchesterspiel. Mit ihm erreicht das Berner Symphonieorchester die Kategorie des Unübertrefflichen und Mustergültigen.

 

Im Zentrum des zweiten Akts steht die Auseinandersetzung Frickas mit Wotan. Claude Eichenberger hat in Bern schon mehrere imponierende Frauengestalten realisiert: Bizets Carmen, Wagners Venus, Menottis Medium. Deren Grösse hat jetzt auch die Göttermutter. Der reiche Mezzosopran nimmt den Ausdruck von Enttäuschung, Trauer, Ermahnung, Zorn, Forderung und Zurechtweisung an. Wotan muss sich beugen. Aber so wechsel­­voll das Geschehen ist, das der Göttervater durchmisst, so reich sind auch die Farben, die Seth Caricos männlichem Bariton zu Gebot stehen. Bei dieser Fülle wird Wotans Zusammenbruch am Ende des dritten Akts zum ergreifenden Finale.

 

Yanhua Liu verkörpert Brünnhilde, die Titelgestalt der "Walküre". Kostüm (Julia Kornacka) und Spiel legen bei der Wotanstochter den Akzent auf "Tochter". Dadurch erscheint Brünnhilde jung und lebensvoll, geradlinig, wahrhaftig und echt. Nachvollziehbar, dass Wotan sie liebt bis an die Grenze des Inzests; nachvollziehbar aber auch, dass der schuldbe­ladene Göttervater ihr gegenüber eine besondere Schuld begeht, wenn er sie von sich stösst. Yanhua Lius kraftvoller Sopran bringt das Mädchen überzeugend zum Ausdruck. Man darf sich freuen, der Götterfamilie bei "Siegfried", der Fortsetzung des "Rings", wiederzubegegnen.

 

Ob das auch mit Nicholas Carter der Fall sein wird? Unter seiner Stabführung ist die Berner Oper wie noch nie über sich hinausge­wachsen. Jetzt bringt sie mit der "Walküre" eine moderne Lesart von Wagner. Das Raunen aus dem mythischen Graben weicht funkelnder Klarheit. Sie streicht mit ihren 630 berückenden Instrumentalsoli die Intelligenz und Schönheit der Partitur heraus.

 

Nicholas Carter ist mit 37 Jahren "dans la force de l'age": Jung genug, um den langen Abend mit Leben und Spannung durchzutragen, erfahren genug, um Musiker und Sänger durch Professionalität zu Höchstleistungen zu befeuern. Beten wir, dass der Mann für die restlichen Abende des "Rings" aus New York und Glyndebourne noch nach Bern zurückfindet!

 

Zwischen Sieglinde, Hunding und Siegmund entsteht ein spannungsvolles Dreieck.

Die Reihe der neun schwangeren Frickas wird zum Vorwurf an Wotan. 

Die "natürliche Felsenhöhle" gestaltet sich zum Betonbunker. 

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