Die Eingeweihten geniessen die himmlischen Längen. © Sandra Then.

 

 

Das Vermächtnis. Matthew Lopez.

Schauspiel.

Philipp Stölzl, Ingo Ludwig Frenzel. Bayerisches Staatsschauspiel, München.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 12. Januar 2023.

 

> Eine Aufführung von Wagnerscher Länge. Beginn: 15:00 Uhr. Ende: 22:30 Uhr. Zwei einstündige Pausen. Aber es fehlt die Musik des Bayreuther Meisters. Ingo Ludwig Frenzels "Kompo­sition" (das Wort steht im Programmheft) kann sie nicht ersetzen, geschweige denn aufwiegen. Dafür gibt es in der Produktion mehr als eine Gralserzählung; je nach Blickpunkt drei, vier oder fünf. Alle drei, vier oder fünf monologisch vorgetragen und von Wagnerscher Länge. Es geht darin jedoch nicht um germanische Helden und Sagen, sondern um die Mythen und Leiden der US-amerikanischen Schwulencommunity. Die Botschaft der Liebe und Zuwendung wird, wie bei jedem Bühnen­weihfestspiel, vom überwiegend männlichen Publikum im Münchner Residenztheater mit Andacht und Ergriffenheit aufgenommen. <

 

Die ermüdende Zähflüssigkeit von Philipp Stölzls Inszenierung entsteht dadurch, dass Matthew Lopez, der Verfasser des Textbuchs, sich vorgenommen hat, die Lebensverläufe einer schwulen Gruppe in New York nachzuzeichnen. Das führt zur Erzählung mehrerer Geschichten. Sie umfassen grob gesagt hundert Jahre. Mit dieser Konzeption wird epische Breite unausweichlich. Dabei verlangt das Drama Konflikt, Raffung, Zuspitzung, Beschleunigung. Wird das missachtet, ist Lange­weile vorprogrammiert.

 

Die Gemächlichkeit, Umständlichkeit und Detailfreude, welche die homerischen Epen zieren, kommen nun also auf die Bühne des Münchner Residenztheaters, und wer im "Vermächtnis" sich, seine Freunde und Umstände wiedererkennt, geniesst in den Szenen, Bildern, Erzählungen und Figurenzeichnungen die "himmlischen Längen" (ausgenommen der Rezensent).

 

Der epische Charakter der Produktion wird durch zwei Umstände verstärkt. Erstens liegt dem "Vermächtnis" ein entzückender Roman zugrunde ("a most delightful novel"): "Howards End" von E. M. Forster. Die Handlung, angesiedelt im viktorianischen London, verknüpft die Lebensverläufe einer Unternehmerfamilie, eines Proletarierpaars und zweier kunstliebender Schwestern (in der einen ist Virginia Woolf abgebildet) mit jener Zartheit, Wärme und unnachahmlich beiläufigen Eleganz, wie sie nur homosexuellen viktorianischen Künstlern gegeben war.

 

Textbuchautor Matthew Lopez übernimmt die Konstellationen des Romans, verpflanzt sie aber geographisch nach New York, zeit­lich in die Gegenwart und soziologisch ins Schwulenbiotop. Immer noch behält die Handlung die schrittweise Entfaltung der Verläufe und das akribische Nacheinander der epischen Darstellungsweise. Doch das Vorgehen führt dazu, dass die Figuren nicht nur handeln können, sondern auch erzählen müssen. Sie müssen erklären, wie es zu etwas kam und wie es mit jemandem weiterging. Dafür wenden sie sich an eine Zuhörerschaft, die sich in der Regel auf der Bühne befindet, manchmal aber auch, zum Abrunden der Geschichte, im Zuschauer­raum.

 

Die Umständlichkeit der Dramaturgie wird, zweitens, dadurch verstärkt, dass Matthew Lopez die Geschichte durch Transfer auf die metanarrative Reflexionsebene hebt. (Ich gebrauche diese Ausdrucksweise, um zu zeigen, dass ich weiss, wie sich ein Mitglied der Scientific Community darzustellen hat, wenn es den Anspruch erhebt, ernstgenommen zu werden.) Für die Zuschauerschaft bedeutet das Prozedere, dass sie am Anfang des Stücks mit der Frage konfrontiert wird, wie man etwas erzählen kann. Bei diesem Start (Wie anfangen? Wie weiterfahren?) wird das Ensemble, das eine Gruppe schreibfreudiger junger Schwuler wiedergibt, von einem älteren Kollegen unterstützt, der als E. M. Forster kostümiert ist. Sein Rat ist: "Sei authentisch! Erzähl deine Geschichte!"

 

So wird nun "Howards End" gespiegelt von der Bühnen­handlung, und die Bühnenhandlung wiederum spiegelt das Zustande­kommen von Geschichten, die im Lauf von siebeneinhalb Stunden zu publikationsreifen Theater- und Romanmanuskripten gedeihen - und "Das Vermächtnis" spielt damit auf der metanarrativen Ebene, wie zur Zeit gerade an mehreren Pariser Häusern: In "Rien ne s'oppose à la nuit" an der Comédie-Française, "Les couleurs de l'air" am Théâtre des Bouffes du Nord und in "Racine carrée du verbe être" am Théâtre National de la Colline.

 

Doch bei aller Artifizialität von Matthew Lopez' Stück mit Fiktion, Spiegelung sowie Brechung der Fiktion liefern zwei Schauspieler in jedem ihrer Auftritte Kabinettstücke realistischer Darstellungskunst: Der geradlinige Thiemo Strutzenberger als Eric, glaubhaft und anrührend, und der überragende Vincent zur Linden. Wie im "Käthchen von Heilbronn", wo er gleichzeitig Kleist und Käthchen spielt, gibt er im "Vermächtnis" die Doppelrolle von Adam (verwöhnter Sohn aus bestem Haus und Shooting Star der Theaterwelt) und Leo (verwahrloster, drogenabhängiger Strassenstricher mit lyrischer Potenz à la Rimbaud). Wenn er auf der Bühne ist, kann die Szene nicht lang genug dauern, und das berühmte "Verweile doch, du bist so schön!" bekommt unversehens eine wörtliche, um nicht zu sagen: erotische Nuance.

 

 

Das Verweile doch ... 

... hat unversehens ... 

... etwas Erregendes. 

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