Unter der Fuchtel der Mutter. © Judith Buss.

 

 

Albert Herring. Benjamin Britten.

Komische Oper.

Gernot Sahler, Alexander von Pfeil, Yeah Eun Hong.

Universität Mozarteum, Salzburg.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 9. Dezember 2022.

 

> In Wikipedias "Mozarteum"-Eintrag figuriert der 52-jährige Opernregisseur Alexander von Pfeil unter der Überschrift "Bekannte Professoren". Geht man aber auf die Suchseiten der Feuilletons, findet man 0 Treffer. Der Grund: Alexander von Pfeil ist im Regiefach das, was man in der Gesangskunst "a singers' singer" nennt. Die einen kennt Krethi und Plethi, die andern sind nur den wenigen ein Begriff, die selber singen und darum ermessen können, um wieviel "a singers' singer" den Durchschnitt überragt. Wer etwas von der Sache versteht, wird folglich durch Alexander von Pfeils jüngste Inszenierung von Benjamin Brittens "Albert Herring" am Mozarteum Salzburg hoch beglückt. <

 

Alexander von Pfeils Inszenierungen verraten die Theater­pranke. Sie beginnen mit einem starken Eindruck. Bei "Albert Herring" entsteht er durch die Kombination von Licht und Raum. (Für Bühne und Kostüme zeichnet die 33-jährige Koreanerin Yeah Eun Hong, die drei Studiengänge hinter sich hat, nämlich in Gesang, Architektur und Bühnengestaltung.)

 

Das Licht kommt durch einen Plastikvorhang von der Seite. Auf diese Weise entsteht im leeren Kubus ein konturloses Schimmern, das keine Farben kennt. Der optischen Unbestimmt­heit entspricht die Unbestimmtheit der Figuren. Sie haben nur flüchtige Umrisse, aber keinen Kern: die Kapitalistin, die Lehrerin, der Pfarrer, der Polizist, der Metzger, die Gemüsehändlerin, die Stadtjugend - und Albert Herring, der topkonforme Sprössling. Unter der Fuchtel der Mutter hat er bis jetzt nur funktioniert, aber nicht gelebt. Er hat gehandelt nach dem Willen der anderen, nicht dem eigenen.

 

Benjamin Brittens "komische" Oper berichtet nun davon, wie der Bursch für einen Moment ausbricht und dann geknickt und zerbrochen aus der Welt, die ihn bloss in die nächste Stadt geführt hat, wieder nach Hause zurückkehrt. Keine Versöhnung. Fortsetzung der Gewaltstruktur. Das ist das "lieto finale" des illusionslosen homosexuellen britischen Komponisten.

 

Unselbständig ist auch die Dienerin, die am Anfang der Vorstellung von der Seite hereintrippelt, um gleich wieder herausgerufen zu werden von einer scharfen Stimme. Mit diesem Auftakt erfasst Alexander von Pfeil die Tonart, in der das Stück gesetzt ist: Terror; genauer gesagt: Tugendterror der Gesellschaftslenker. Es braucht keine Aktualisierung, um Beklommenheit über die Rechtschaffenheitsidiotie aufkommen zu lassen. "Welt bleibt Welt", sagte Martin Luther, "das heisst des Teufels Braut".

 

Die Einheitsbühne zeigt das Schulzimmer, in dem sich das Tugendkomitee zur Sitzung versammelt. Wenn die Figuren hereinkommen, werden Neonröhren angezündet, und wenn sie hinausgehen, werden sie wieder gelöscht. Sparsamkeit ist eine Tugend. Wir sind im Begriff, sie beim Energiekonsum eben wieder zu lernen.

 

Der Raum ist breit, hat aber keine Tiefe. Er lässt sich symbolisch lesen. Basrelief: Die Figuren lösen sich nicht von der Fläche, bleiben dem allgemeinen Grund verhaftet. Bis zur Pause wird das Verharren auf der x-Achse immer bedrückender und weckt den Wunsch: "Wann öffnet sich endlich die Tiefe?" So gestaltet Alexander von Pfeil nicht nur die Aufführung, sondern auch die Empfindungslage der Zuschauer.

 

Nach der Pause stellt sich die Tiefe durch zwei Elemente ein. Erstens durch den Gang der Handlung: Albert Herring verschwindet. Niemand weiss, wo er ist. Die Vermutungen schiessen ins Kraut. Damit wird die Kapsel, in der die Figuren miteinander verkehrten, durchlässig für eine unbekannte Ferne, und durch die Risse kriecht das Grauen herein: Ob etwa Albert Herring an einem unbekannten Ort den Tod gefunden hat?

 

Die zweite Art von Tiefe entsteht durch den Schein einer Schreibtischlampe. Er ruft einen Eindruck von Dreidimensio­nalität hervor, und zwar ausgerechnet dann, wenn Tragik und Drama in die Handlung brechen. Das zeigt: Die Tiefe erscheint nicht im Glück, sondern im Unglück. Mit diesem Spielzug entspricht die Inszenierung der "komischen Oper" den Gedanken des Komponisten bis, nun ja, in die Tiefe.

 

Die musikalische Interpretation unter Gernot Sahler ist weniger bedeutend. Das liegt in der Natur der Dinge respektive der Mitwirkenden. Den Sängern und Musikern, die an der Universität Mozarteum studieren und "Albert Herring" als Prüfung absolvieren, fehlen fünfzehn Jahre Praxis, um das souveräne Nebenbei des Parlandostils einbringen zu können, welches den Native Speakers mitgegeben wurde. Salzburg ist halt doch nicht Glyndebourne. Aber fürs Engagement an ein Staatstheater reicht es allemal.

 

Da es sich bei "Albert Herring" um eine Produktion "for singers and their friends" handelt, ist der Premierenapplaus eine Kategorie für sich. Das Publikum bedankt sich, zu recht, mit Wärme für alle Mitwirkenden, stuft aber den Beifall genau ab. Es erfüllt damit den Traum, mit dem Hugues Gall aus seiner 24-jährigen Karriere als Direktor der Genfer und der Pariser Oper schied. Als er vom bayerischen Rundfunk gefragt wurde, ob er noch einen Wunsch habe, sagte er: "Einmal eine Vorstellung erleben, bei der das Publikum merkt, was ihm geboten wird." Am Mozarteum in Salzburg realisiert sich das Ideal in jeder Vorstellung.

 

Die Tugendhafte kennt die Standesunterschiede. 

Das Tugendkomitee debattiert kontrovers. 

Der Tugendkönig kommt vom Ausflug nach Hause. 

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