Der Liebestrank. © Martin Sigmund.

 

 

L'Elisir d'amore. Gaetano Donizetti.

Melodramma giocoso.

Michele Spotti, Anika Rutkofsky, Uta Gruber-Ballehr.

Staatsoper Stuttgart.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 22. November 2022.

 

> Bis nach der Pause bewegt sich die Aufführung auf sehr hohem Niveau. Dann hebt sie ab und führt in jenseitige Seligkeit. Einzelne Zuschauer sind so überwältigt, dass ihnen die Tränen kommen. Andere können nur noch klatschen, aber nicht mehr "Bravo!" rufen, weil ihnen die Stimme vor Rührung versagt. Und was ist der Grund? Schlichte Menschlichkeit. Diese Qualität auf der Bühne zu erreichen bildet, wie die Stuttgarter Erfahrung zeigt, den Gipfel der Kunst. <

 

Die 35-jährige Regisseurin Anika Rutkofsky hat zusammen mit Johanna Danhauser (konzeptionelle Mitarbeit) den Blick fest auf die Achse gerichtet, die Gaetano Donizettis "Melodramma" strukturiert: Die Beziehung zwischen den Hauptfiguren Annina und Nemorino. Bei aufgehendem Vorhang erscheint das Verhältnis als Diagonale. Oben rechts steht Annina auf der Kommando­brücke. Sie bedient den Computer. Sie analysiert Kontroll­streifen. Sie gibt durchs Mikrofon Anweisungen an die Beleg­schaft. Sie ist gescheit und autonom. Manchmal schiebt sie kokett eine Brille vors Auge, denn sie kennt die Wirkung ihres Blicks. Annina ist eine emanzipierte, selbstsichere Frau. Sie dirigiert die Gemüseproduktion in einer Gewächshalle.

 

Unten links, am andern Ende der Diagonale, steht Nemorino, unerkennbar im Heer der Arbeiter. Verpackt in Haube und Schutzkleidung sieht er aus wie alle anderen. Von ihm wird erwartet, dass er den Blick zu Boden richte, aufs Gemüse, das in den Beeten wächst, und nicht nach oben, zur unerreichbaren Schönen. Unter dieser Spielanlage realisiert sich "L'Elisir d'amore" als hindernisreiche Fahrt von der Erde in einen Himmel voller Liebe und Seligkeit, und zwar paradoxerweise, indem sich Annina herunterlässt zu Nemorino, dem Tumben und Toren. Um so weit zu kommen, muss sich die Emanzipierte emanzipieren von ihren Erfolgsvorstellungen und verstehen, dass Liebe ein Geschenk ist, nicht das Produkt einer Leistung; auch nicht ein Spiel.

 

Nemorino selber ist ein Mensch ohne Einbildung. Er kennt seine Bedürftigkeit. Deshalb ist er dankbar für den Doktor, der ihm den Liebestrank verkauft hat, und dankbar für Anninas Zuwendung. Damit realisiert sich am Ende des Melodrammas das Ideal einer Beziehung, in der die Partner einander annehmen, ohne Ansprüche zu stellen. Und dabei zeigt sich: "Liebe ist das Privileg, eine Vollkommenheit zu bemerken, die anderen Augen unsichtbar bleibt." (Nicolás Gómez Dávila) Das Ergebnis treibt einzelnen Zuschauern Tränen in die Augen. Andere können nur noch klatschen, aber nicht mehr "Bravo!" rufen, weil ihnen die Stimme vor Rührung versagt.

 

In der Interpretation von Anika Rutkofsky wird "L'Elisir d'amore" zum Märchen. Damit stellt es sich quer zum Trend. Denn das Leben, das die Zuschauer kennen (gerade am Industrie- und Wirtschaftsstandort Stuttgart), ist geprägt von Optimie­rung, Automatisierung, Technisierung und Digitalisierung, und dieses Bild zeigt auch der Vorhang, der anfangs bloss als Wieder­gabe eines Mosaiks erscheint. Aber während des Orche­ster­vorspiels entpuppt er sich als Luftaufnahme einer Region, in der Feld neben Feld liegt (Bühne: Uta Gruber-Ballehr). Nun beginnen einzelne Parzellen, weiss zu glänzen: es sind die, bei denen die Gemüseproduktion auf Hallenbetrieb umgerüstet wird. Die Bauten nehmen zu. Am Schluss hat die Agrarindustrie die Landwirtschaft verdrängt, das Treibhaus den Acker, gleich wie die Medien- und Kommunikationsindustrie den Schriftstel­ler.

 

Das Konzept des Regieteams, das zusammen mit Gaetano Donizettis Meisterpartitur auf die Utopie reiner Menschlich­keit hinausläuft, hätte nicht so überwältigend ausfallen können, wenn nicht die Staatsoper Stuttgart mit Claudia Muscho als Annina und Kai Kluge als Nemorino zwei Sänger hätte ins Feld führen können, die stimmlich, musikalisch und darstel­lerisch das Rollenideal in jeder Hinsicht erfüllen. Deshalb ging die gespannte Aufmerksamkeit, mit der das vollbesetzte Opernhaus die Schlussarien verfolgte, über technische Aner­kennung und künstlerische Teilnahme hinaus: Sie erwuchs dem Bewusstsein, einen einmaligen Musiktheater-Moment zu erleben. "Und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen" (Goethe).

 

Trefflich auch die beiden Nebenfiguren. Giulio Mastrototaro gab Dulcamara, den Scharlatan, als saftige, aber menschlich sympathische Charge - mithin als Gegenbild zur kalten Gefühls- und Geldausbeutung der Cyberindustrie - und Björn Bürger den Korporal Belcore nicht bloss als eitlen, sondern letzten Endes gutmütigen Kerl, der jedem das seine gönnt (im Gegensatz zu den Zombies der Neidgesellschaft).

 

Am Pult stand der 29-jährige Michele Spotti. Souverän führte er durch den Abend. Er hatte es nicht nötig, sich durch übertriebene Gesten bemerkbar zu machen. Er war gut.

 

So stehe ich denn tief unten an der Schattenseite des Berges. Aber ich bin nicht grämlich geworden; sondern wohlgemut, halb schmunzelnd, halb gerührt, höre ich das fröhliche Lachen von anderseits her, wo die Jugend im Sonnenschein nachrückt und hoffnungsfreudig nach oben strebt.

 

Wilhelm Busch: Von mir über mich. Letzte Fassung, 1894.

 

Der Leidende.

Der Rivale. 

Die spröde Schöne. 

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