Demütigung des Ehemanns. © Joel Schweizer.

 

 

Wer hat Angst vor Virginia Woolf? Edward Albee.

Schauspiel.

Janusz Kica, Karin Fritz, Michael Nobs. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 2. Dezember 2022.

 

> Der Geist weht, wo er will. Für die Aufführung des Schau­spiel­klassikers "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" ist er, zum x-ten Mal, an den Jurasüdfuss gezogen. Er scheint sich dort wohlzufühlen. An der 1600 Meter hohen Kalksteinkette haben Pflanzen und Insekten die Eiszeit überlebt, die anderswo ausgestorben sind. Und an diesem Steilhang betreibt jetzt Theater Orchester Biel Solothurn aufwühlendes Erzähl- und Schauspie­ler­­theater, obgleich es das Feuilleton verabscheut wie der Teufel das Weihwasser. Doch warum denn eigentlich? Weil die ordent­liche Kritik überfordert ist zu erklären, wie das Ding zustandekam. Deshalb zieht die Journaille lieber die Nase kraus, als zu schreiben: "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" ist in Biel/Solothurn besser als am Burgtheater. Wer aber beide Insze­nierungen gesehen hat, kann's bezeugen.<

 

Das muss man mal machen: Ein Drama zwei Stunden und zwanzig Minuten lang im selben Raum ablaufen zu lassen, mit immer denselben vier Spielern, ohne dass die Spannung eine Minute erlahmt! Dabei werden in diesem Mikrokosmos gar keine grossen, weltgeschichtlichen Themen behandelt, sondern bloss Campus­intrigen und Ehegeschichten. Die hässlichen Themen steigen zu vorgerückter Stunde aus den zahllosen, unaufhörlich nachge­füll­ten Whisky- und Cognacgläsern auf wie vordem die Weiber­geschichten in "Hoffmanns Erzählungen". Während aber bei Jacques Offenbach die Szenerie für jeden Akt wechselt, bleibt sie bei Edward Albee stets dieselbe: Ein Wohnzimmer. "Nicht zufällig hat Albee eine Vorliebe für den vieldeutigen Begriff 'box', der im amerikanischen Slang auch für 'Sarg' und für die 'Klemme', in die jemand gerät, steht", bemerkt dazu Ortwin Kuhn.

 

Im Sarg mit dem hämischen Namen "living room" bringt der Alkohol das Blut in Umlauf und enthemmt die Geister. Das führt zur grossen Gebärde, zur Angeberei, zum lauten Geschrei - aber auch zu Sadismus, der Lust am Fertigmachen, dem heulenden Elend, Gekotz und Zusammenbruch. "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" ist folglich eine durch und durch bewegte Geschichte. Ihr Lauf ist so schwankend wie ein Floss auf windgepeitschtem Meer oder der Weg eines Säufers zur Nachtzeit.

 

Edward Albee fasst das Chaos zusammen in der Grossform dreier Akte, die er mit Überschriften versieht. Die erste heisst: "Fun and Games" (Gesellschaftsspiele). Da geht es um die Beleidi­gung und Demütigung des Ehemanns in Gegenwart von Gästen. Der zweite Akt, "Walpurgisnacht", führt zur Demütigung der Gäste. Im dritten Akt, "Exorcism" (Austreibung), bringt der Zusammenbruch die Paare auf den Boden ihrer kleinen, beschämenden Wirklichkeit. Kein schlechter Schluss. Daraus kann (vielleicht) Neues entstehen, nach dem Bibelwort, aus welchem Sigmund Freud die Psychoanalyse entwickelt hat: "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen."

 

Janusz Kica inszeniert den langen, schmerzhaften Prozess der Dekonstruktion von Lebenslügen in einem Stil, den man zwischen Wien und Paris (dem Theater in der Josefstadt und der Comédie-Française) kaum mehr antrifft - ausser am Jurasüdfuss. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass ein oberflächlicher Blick die Regie gar nicht bemerkt. Er meint, es sei "nichts gemacht" worden. Dabei verlangt gerade die Unscheinbarkeit, mit der dieser Stil daherkommt, ein Höchstmass an Sensibilität, Geduld und Feinschliff. (Aus diesem Grund, möchte man vermuten, kommt er heute auch so selten vor.) Es geht also um diskrete Exzellenz, um (un)heimliche Klassizität und um zur Perfektion getriebenes Understatement: Man kann's nur so machen, wie's gemacht wird (nur so!), und niemand merkt's. Perlen vor die Säue. Aber in dieser Verschwendung liegt der Luxus der Kunst.

 

Bei "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" ist also zu bewundern - und zu geniessen - die Organisation der Gänge und Gebärden. Stets läuft etwas, bzw. jemand, aber dieses Laufen erfolgt so beiläufig, dass man's übersieht. Technisch gesprochen dient die Vielfalt an Bewegungen dazu, die Szene lebendig zu halten. Gesteuert werden die Abläufe von einem Vermögen, das man ebenfalls gern übersieht: Es ist der Sinn für Rhythmus und Proportion. Er ist entscheidend für alle Künste, aber vorzüg­lich für die, welche mit der Zeit spielen: also Film, Musik, Theater. Dazu gehört auch (aber das ist schon fast nicht mehr wahrnehmbar, obwohl man's spürt) die Regulierung von Klima und Intensität. In diesem Punkt hat es Janusz Kica seit langem zur Exzellenz gebracht. Dass er seine Exzellenz jetzt nach Biel/Solothurn bringt, ist ein Geschenk von Schauspieldirek­torin Katharina Rupp.

 

Wie feinsinnig mit Janusz Kica gearbeitet wird, zeigt sich daran, dass Drama und Aufführung die Klarheit eines blank­geputzten Kristalls annehmen. Obwohl jeder Satz und jede Gebärde daherkommen, als entstünden sie aus dem Moment, sind sie richtig, richtig und wieder richtig. Wer Ohren hat zu hören, hört's. Wer Augen hat zu sehen, sieht's. Und wer nicht? An dem geht's vorbei.

 

An den Lenker Tagen für Theaterwissenschaft wurden die Mitschnitte solcher Inszenierungen in Anwesenheit des Regisseurs in mehrtägigen Arbeitsgruppen interdisziplinär untersucht, und dabei zeigte sich immer, was auch bei "Virginia Woolf" zutage träte: "Zerpflücke eine Rose, und jedes Blatt ist schön." (Bertolt Brecht)

 

Auf dem Weg zu "Virginia Woolf" hatte sich Edward Albee vorgenommen, Dramen zu schreiben, die "so tief unter die Haut gehen, dass es fast unerträglich ist". Dass sich diese schmerzhafte Intensität jetzt bei Theater Orchester Biel Solothurn einstellt, liegt am hochpräzisen, packenden Zusammenspiel von Silke Geertz (Martha), Günter Baumann (George), Miriam Joya Strübel (Honey) und Jürgen Herold (Nick). Ihre Figuren sind durchgehend lesbar. Man erkennt in jedem Moment, wo sie stehen und was in ihnen vorgeht.

 

Die Leistung ist um so beeindruckender, als das Bühnenbild und die Kostüme (Karin Fritz) sowie die Lichtgestaltung (Michael Nobs) von äusserster Zurückhaltung sind. Auf der gleichmässig ausgeleuchteten Szene gibt es nur gerade einen Tisch und einen Hocker. Der Boden hat drei Niveaus (sie erlauben ein dynami­sches Auf und Ab). Als lastende Bedrohung evoziert die Decke durch ein Konstrukt von Metallstäben die Winkelzüge, mit denen die Figuren einander schachmatt zu setzen suchen. Man müsste die Struktur in die Luft jagen, sonst bleiben die Paare im Stück wie im Leben eingeklemmt in der Box ihrer Gewohnheiten.

 

Gesellschaftsspiele. 

Heucheleien. 

Elend. 

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