Das Leben als Variété. © Suzanne Schwiertz.

 

 

Die sieben Todsünden. Kurt Weill.

Ballett mit Gesang.

Iwan Wassilevski, Olivier Tambosi. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 29. Oktober 2022.

 

> Welch starker Tobak! Man möchte meinen, Bertolt Brecht, Kurt Weill, HK Gruber und Christian Muthspiel (von den beiden letzteren stammt die Fassung für 15 Instrumentalisten, die jetzt zur Schweizer Erstaufführung kam) hätten beim Schreiben der "sieben Todsünden" das Bieler Stadttheater vor Augen gehabt, so genau passen Haus, Aufführung und Werk zusammen. Der Raum spielt mit, geladen von Intensität. Er unterstützt die Darsteller, er unterstützt das Orchester, das genau so tönt, wie es sich die Urheber vorgestellt haben müssen, und er unterstützt das Regiekonzept. Olivier Tambosi erweitert die Handlung nach links und rechts und lotet die Spanne zwischen Komik und Tragik, Traum und Wahnsinn, Dialektik und Schizophrenie bis zur Schmerzgrenze aus. Ein Abend voller Bezüge, dicht, intelligent und farbig – starker Tobak eben, wie er dem abgebrühten Kritikerherzen zusagt. <

 

Ein weisser Strich teilt die Bühne in zwei Hälften, eine linke und eine rechte. Geteilt ist auch die Hauptfigur:

 

Meine Schwester ist schön, ich bin praktisch.

Meine Schwester ist ein bisschen verrückt, ich bin bei Verstand.

Wir sind eigentlich nicht zwei Personen

Sondern nur eine einzige.

Wir heissen beide Anna.

 

Wie das zu verstehen sei, erklärt Bertolt Brecht am Anfang seines Einakters "Die sieben Todsünden der Kleinbürger". Sie kamen 1933 als Ballett unter dem Titel "Les sept péchés capitaux" in Paris zur Uraufführung, choreographiert von George Balanchine:

 

Das Ballett soll die Darstellung einer Reise zweier Schwestern aus den Südstaaten sein, die für sich und ihre Familie das Geld zu einem kleinen Haus erwerben wollen. Sie heissen beide Anna. Die eine der beiden Annas ist die Managerin, die andere die Künstlerin; die eine ist die Verkäuferin, die andere die Ware.

 

Da läuft also eine teuflische Spaltung durch die Verhältnisse: Wer in dieser Welt (Brecht meint: des Kapitalismus) nur gut ist und nicht auch gerissen, nur anschmiegsam und nicht auch hart, nur liebend und nicht auch rücksichtslos, geht unter. Im "guten Menschen von Sezuan", einem später geschrieben Para­bel­stück, muss sich deshalb die Hauptfigur, um Laden und Liebe durchzubringen, teilen in Shen Te, die Gutherzige, und Shui Ta, den Hartherzigen.

 

Bei den "sieben Todsünden" übernimmt Olivier Tambosi die Spaltung und setzt sie konsequent in Inszenierung und Bühnenbild fort. Anna I und Anna II gehören zu zwei verschiedenen Geschlechtern, Mann und Frau, auch wenn sie "eigentlich nicht zwei Personen" sind, "sondern nur eine einzige". Die Teilung liegt im Werk. Es besteht aus denen, die zu Hause bleiben (der Familie), und denen, die weggeschickt werden (Anna I und II); denen, die sich opfern, und denen, die profitieren; denen, die arbeiten, und denen, die einstreichen:

 

Denn auf uns warten unsere Eltern und zwei Brüder in Louisiana

Ihnen schicken wir alles Geld, das wir verdienen

Und von diesem Geld soll gebaut werden

Ein kleines Haus am Mississippifluss in Louisiana

Nicht wahr, Anna?

Ja, Anna.

 

Arbeit fürs kleine Haus – der Kleinbürgertraum par excellence. Er veranlasste Benedikt Loderer in seiner "Beschreibung des Schweizerzustands" zum Fazit: "Das Hüsli ist die Krankheit des Landes." Erwerben kann man das Hüsli nur durch Fleiss. Darum steht "Faulheit" zuoberst auf der Liste der sieben Todsünden. Wenn nach der mittelalter­lichen Auffassung die Todsünden zu ewiger Verdammnis führten, so führt ihre Vermeidung zu ewiger Seligkeit, sprich: zum Hüsli.

 

Für Bertolt Brecht sind diese Heilsvorstellung und dieser Heilsweg ein einziger Witz, und demgemäss besetzt Olivier Tambosi die vierköpfige Familie, die aus der Ferne Annas Geschicke verfolgt und kommentiert, mit vier Clowns. Ein hervorragender Einfall. Er verwandelt das Ballett in eine Variétévorstellung. Das bedeutet einerseits Spektakel, andererseits Abrichtung, einerseits Glamour, andererseits Erniedrigung.

 

Damit tritt die Signatur der Inszenierung ans Licht: hoch­intel­li­gente Mehrdeutigkeit. Sie zeigt sich schon beim Element der weissen Kuben, die die Clowns herumschieben (stimmlich und darstellerisch exzellent: Remy Burnens, Konstantin Nazlamov, Félix Le Gloahec, Jean-Philippe McClish). In der einen Nummer dienen die Kuben als Bausteine fürs kleine Haus. In der andern als Podeste, auf denen die dressierten Wesen zur Schau gestellt werden. In der dritten Nummer symbolisieren sie die Last der Verpflichtungen, die man für die Angehörigen schultern muss. Dann bedeuten sie Schutz, dann Abgrenzung. Ihre fortwährende Umstellung bringt Fluidität und Bewegung auf die Bühne; sie verscheucht, wie Brecht schrieb, die Statik der Verhältnisse:

 

Lob der Dialektik

 

Das Unrecht geht heute einher mit sicherem Schritt.

Die Unterdrücker richten sich ein auf zehntausend Jahre.

Die Gewalt versichert: So, wie es ist, bleibt es.

Keine Stimme ertönt ausser der Stimme der Herrschenden

Und auf den Märkten sagt die Ausbeutung laut: Jetzt beginne ich erst.

Aber von den Unterdrückten sagen viele jetzt:

Was wir wollen, geht niemals.

Wer noch lebt, sage nicht: niemals!

Das Sichere ist nicht sicher.

So, wie es ist, bleibt es nicht.

Wenn die Herrschenden gesprochen haben

Werden die Beherrschten sprechen.

Wer wagt zu sagen: niemals?

 

Das Umkippen realisiert die Inszenierung mit dreifachem dialektischem Sprung. In einem ersten Durchlauf bringt sie "Die sieben Todsünden" als flottes Spektakel, und das Sinfonie Orchester Biel Solothurn, geleitet von Iwan Wassilewski, spielt Kurt Weills Komposition mit dem lauten, etwas vulgären Schmiss einer Variétékapelle, wie es sich die Urheber dachten. Das bezeugen die Weill-Aufnahmen, die nach dem Krieg entstanden, mit dem Orchester des Senders Freies Berlin, dem Dirigenten Wilhelm Brücker-Rückeberg und unter der Gesamtleitung von Lotte Lenya, der einstigen Frau von Kurt Weill und der Anna I an der Pariser Uraufführung.

 

Wenn sich die Komposition am Schluss beruhigt ("Dann kehrten meine Schwester und ich zurück nach Louisiana / Wo die Wasser des Mississippi unter dem Mond fliessen"), dann sieht man wohl den Mond und die bewegte Fläche des Stroms, aber der Durchlauf mündet nicht in einen Triumph. Die beiden Annas haben sich kaputtgeschuftet. Der Traum vom kleinen Haus brachte ihnen auf sieben unmenschlichen Stationen nicht Selbstverwirklichung, sondern Selbstvernichtung, und ihr Kreuzweg führte nicht ins Paradies, sondern in die Verdamnis.

 

An diesem Punkt kippt die Aufführung in die Antithese. Noch einmal werden "Die sieben Todsünden" gegeben. Aber Spielort ist jetzt nicht mehr das Variété, sondern das Irrenhaus. Der Traum vom Hüsli entpuppt sich hier als Albtraum, als ruinöse Idée fixe. Dabei verwandelt sich der musikalische Schmiss in Trauer. Dementsprechend erklingt die Partitur jetzt zart, sensibel, differenziert, aufgebrochen in Pastellfarben, wie in der Aufnahme von John Eliot Gardiner mit dem NDR-Sinfonieorchester 1994. Fabelhaft.

 

War im ersten Durchlauf Christian Manuel Oliveira Anna I, so ist es im zweiten Christiane Boesiger. Brachte er die knappe Lakonie, so verwirklicht sie die gefühlvoll-elegischen Töne.

 

Verstand und Gefühl: Zwei Seiten der selben Anna. Auf dem Weg nach oben, das in Wirklichkeit nur ein Drüben ist, nämlich "ein kleines Haus am Mississippifluss in Louisiana", erweisen sich Gefühl und Verstand als nicht als Verbündete, sondern als Gegenspieler. Damit bedeutet der "American Way of Life" lustfeindlichen Krampf, nicht organische Ausfaltung der Persön­lichkeit.

 

Und jetzt? Den dritten dialektischen Sprung muss der Zuschauer selbst machen:

 

Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!

Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!

 

Auf welche Seite Brecht hinneigte, sprach er, schon von der Krankheit gezeichnet, in einem der späten Gedichte aus:

 

Fröhlich vom Fleisch zu essen

 

Fröhlich vom Fleisch zu essen, das saftige Lendenstück

und mit dem Roggenbrot, dem ausgebackenen, duftenden

Den Käse vom grossen Laib und aus dem Krug

Das kalte Bier zu trinken, das wird

Niedrig gescholten, aber ich meine, in die Grube gelegt werden

Ohne einen Mundvoll guten Fleisches genossen zu haben

Ist unmenschlich, und das sage ich, der ich

Ein schlechter Esser bin.

 

The American Way of Life. 

Eine kitschige Show. 

Wie ein Albtraum. 

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