Mehrheitsfähiges Erzähltheater. © Simon Gosselin.

 

 

Racine carrée du verbe être. Wajdi Mouawad.

Schauspiel.

Wajdi Mouawad. Théâtre National de la Colline, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 10. November 2022.

 

> Die Handschrift von Wajdi Mouawad ist mehrheitsfähiges Erzähltheater. Damit gelingt es ihm, das Théâtre national de la Colline bis zum letzten Platz zu füllen. Hier gibt es Weltküche am Buffet, Kopftuchfrauen zur Bedienung und allgemeine, nicht nach Geschlechtern getrennte WC-Räume. Ein überaus wohlerzogenes, junges Publikum aus der gemässigten Linken zeigt humanistische Gesinnung, Aufmerksamkeit für die Handlung und die Bereitschaft, sich für die Werte der Solidarität zu engagieren. Drei Schweizer Rentner verlassen den Saal. Alle andern aber kehren nach der ersten Pause zurück; auch nach der zweiten. Am Schluss der Vorstellung, nach sechseinhalb Stunden, stehen die Zuschauer geschlossen auf zum Applaus. Der Beifall gilt Wajdi Mouawads Botschaft: Wir müssen lernen, Versöhnlichkeit zu entwickeln, damit es auf der Welt besser wird. Mit diesem Appell liegt das Théâtre national de la Colline auf der Linie von Friedrich Schiller, der in einem berühmten Aufsatz "das Theater als moralische Anstalt betrachtet" hat. <

 

Wajdi Mouawad kam mit neun Jahren nach Frankreich, als Flüchtlingskind aus dem libanesischen Bürgerkrieg. Als die Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen war, musste die Mutter mit den Kindern weiter nach Kanada. Vor einem Jahr hat Mouawad in seinem ergreifenden Stück "Mère" diese Erfahrung verarbeitet. Bereits damals betätigte er sich, wie beim aktuellen franzö­sischen Theater häufig, zugleich als Autor, Regisseur und Schauspieler. Darum die Seltenheit von "Fassungen" oder Klassikerinszenierungen "nach". Man macht das Neue lieber selbst. So auch bei der neuesten Uraufführung, "Racine carrée du verbe être", wo der Pariser Theatermann libano-kanadischer Nationalität seine Erfahrungen wiederauf­nimmt und weiterdenkt.

 

Bei Schicksalen, die nicht auf geordneten helvetischen Bahnen gleiten konnten, hängt der Verlauf immer wieder am Wörtlein "wenn". Wenn die Familie auf der Flucht aus Beirut nicht ins letzte französische, sondern ins letzte italienische Flugzeug gestiegen wäre, hätte es aus Mouawad vielleicht einen Neuro­chirurgen gegeben. Oder wenn er nicht in die École nationale du théâtre du Canada gekommen wäre, einen Taxifahrer. Die Unberechenbarkeit der Lebensläufe, von vielen erkannten und unerkannten Wenns beeinflusst, gleicht der Unvorhersehbarkeit der Zahlen hinter dem Komma von Wurzel 2, einer sogenannt irrationalen Zahl, deren Ziffern bis ins Unendliche ungeregelt fortlaufen. An ihr wird die Philosophie des Stücks exemplifi­ziert.

 

Wajdi Mouawad unterstreicht das Gemeinsame im Verschiedenen dadurch, dass die Personen Mitglieder einer grossen, wenn auch durch Kriege und Katastrophen über die Welt verstreuten Familie sind. Entsprechend wechseln die Schauplätze, entspre­chend wechseln die Geschichtsausschnitte. Mit der Zeit aber treten die Verbindungen ans Licht. Die Handlung ist so kon­struiert, dass am Schluss die Resignierten, Eingespurten, Festgefahrenen und Uneinsichtigen vor die Aufgabe der Selbst­überwindung gestellt werden, und das bedeutet: Loslassen von Prinzipien, Gewohnheiten, liebgewonnenen Anschauungen. Die Notwendigkeit des Umdenkens, das für Schiller (und das Neue Testament) den Menschen erst zum Menschen macht, ist auch Kernanliegen Wajdi Mouawads, und dementsprechend fällt der Pariser Theatermann, wie sein Weimarer Kollege, gern ins Deklamatorische. Nietzsche nannte Schiller den "Moraltrompeter von Säckingen". In der Colline wird ebenfalls Trompete gespielt und laut gesprochen - durch die Akustik mitver­schuldet.

 

Das Ensemble ist nicht homogen. Die 80:20-Regel gilt auch fürs Theater. Bei den Elitebühnen (Comédie-Française, Theater in der Josefstadt, Burgtheater) sprechen 80 Prozent der Schauspieler einwandfrei. Bei den übrigen Häusern - und dazu gehört die Colline - ist das Verhältnis umgekehrt. Ein besonderes Rätsel bleibt, warum die Diktion der jungen Frauen durchs Band so verwaschen ist. Zur Zeit von Elisabeth Orth, Erika Pluhar, Cornelia Froboess, Kirsten Dene und Jutta Lampe war das nicht der Fall.

 

Trotz dieser Einschränkungen erzählt Wajdi Mouawad mit "Racine carrée du verbe être" eine sauber gebaute Geschichte, die durch ihre Menschlichkeit immer wieder ans Herz rührt. Nach sechseinhalb Stunden verlässt man das Haus dankbar für das instruktive Panorama zugespitzter Schicksalsverläufe, nachdenklich über die tägliche Aufgabe, seine persönliche Humanität zu realisieren, und erbaut durch das Beispiel derer, die es konnten. Weimar befindet sich heute im 20. Pariser Arrondissement. Die Homepage erklärt: "La Colline widmet ihr Programm den zeitgenössischen Theatertexten in einem Projekt, das, offen für Vielfalt und Jugend, die Gastfreundschaft zelebriert." Der Erfolg zeigt, dass es dem engagierten Team gelang, sein Versprechen einzulösen.

 

Die Lebensverläufe ... 

... hängen bei allen ... 

... am Wörtlein "wenn". 

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