Schauspielertheater von der feinsten Sorte. © Matthias Horn.

 

 

Nebenan. Daniel Kehlmann.
Schauspiel.
Martin Kušej, Jessica Rockstroh. Burgtheater Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. Oktober 2022.

 

> Am Anfang seiner Meisterinszenierung etabliert Martin Kušej zunächst einmal Tempo und Tonart. Er setzt das Schauspiel "Nebenan" von Daniel Kehlmann in h-Moll und überschreibt es mit "Largo". Durch eine lange, unbewegte Eröffnungssequenz macht er deutlich, dass er nicht Film-Naturalismus anstrebt, sondern eine Lage wiedergeben will. Der Spielort, die Kneipe "Zur Brust", liegt im Herzen Berlins auf dem Meeresgrund. Wer da ankommt, ist untergegangen. <

 

Das gemessene Tempo, mit dem Martin Kušej die Aufführung durchzieht, ist das Mittel, die Spannung während eindrei­viertel Stunden oben zu halten. Alle Vorgänge bekommen durch die Langsamkeit ihr Gewicht, nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch. Sie schaffen ein Netz ausgesprochener und unausgesprochener Bezüge, analog zu den Sätzen in Georges Simenons Romanen, die vom Wetter, von Gerüchen oder Klängen reden. Ihnen entspricht das "Pffffft!", mit dem das Bierglas vor dem Einschenken benetzt wird, oder das "Klack!", mit dem die Schnapsgläser auf den Tisch kommen.

 

Die Aufführung ist durchsetzt mit Momenten, für die Harold Pinter "Pause" oder "Stille" in den Text geschrieben hätte. Sie dienen dazu, eine Atmosphäre diffuser Bedrohlichkeit herzustellen. Bei "Nebenan" erhält die Gefahr ihr Gesicht durch die Figur eines Nachbarn von nebenan, Bruno genannt. Die Rolle wächst bei Norman Hacker durch das Zusammenwirken von Regie, Text und Spiel zwei Stunden lang unaufhörlich an. Meisterhaft.

 

Das Opfer ist Florian Teichtmeister, im Stück Florian genannt, ein Filmschauspieler der Oscar-Kategorie und in Wirklichkeit ein Burgschauspieler der Nestroy-Kategorie. Während der Gegenspieler wächst und wächst, wird Florian unaufhaltsam die Treppe hinuntergedrängt, anfangs ohne es zu merken. Die Demontage treibt den erfolgsverwöhnten Mann aus sich heraus, und seine Darstellung bekommt in der Abwehr, im Widerstand und im Gegenangriff immer neue Facetten. Meisterhaft.

 

So führt die Inszenierung gemächlichen Schritts (Tempobe­zeichnung: Largo) zuerst zu Umschwung, dann zu Vernichtung. Vernichtet wird indes nicht bloss ein Mensch, sondern eine Lebenslüge. Und weil es sich um Lüge handelt, kommt ihr Ende durch Aufdeckung. Florian und seine Frau, eine arrivierte Ärztin (verkörpert durch Elisa Plüss), können am Ende nicht mehr an sich vorbeischwindeln. In grotesker Erkennbarkeit stehen sie voreinander: "Da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren." (1. Mose 3, 7)

 

In diesem Zusammenhang ist es nichts als folgerichtig, dass Martin Kušej eine leichte Zerrlinse über die Darstellung legt. Die Nebenfiguren der Wirtin (Katharina Pichler), des reglosen Stammgasts (Stefan Wieland), des Taxifahrers, des Obdachlosen und des adipösen Säufers (alle drei mit genauem Pinsel umrissen von Arthur Klemt) tragen die Züge von Deix-Figuren. Die Kritik, die an der Aufführung kein gutes Haar liess, sprach von übertreibender Unwahrheit. Goethe aber wusste: "Die Poesie sagt wahr, indem sie lügt." Und das Publikum der eingeschobenen Vorstellung im vollbesetzten Burgtheater bedankte sich mit warmem, lange anhaltendem Applaus für ein starkes, neues Stück Erzähl- und Schauspielertheater von der feinsten Sorte.

 

Gemächlichen Schritts ... 

... zu Umschwung ... 

... und Vernichtung. 

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