Minimalistisch andeutende Verfremdung. © Moritz Schell.

 

 

Ein Kind unserer Zeit. Ödön von Horváth, Bühnenfassung von Stephanie Mohr. (UA).

Schauspiel.

Stephanie Mohr, Miriam Busch. Theater in der Josefstadt, Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. Oktober 2022.

 

> Im Pariser Exil wurde Ödön von Horváth bei plötzlich ausbrechendem Gewitter am 1. Juni 1938 auf den Champs-Élysées von einem Baum erschlagen. Er war 37 Jahre alt geworden. "Wenn einer der unsern heute auf solche Weise umkommt", schrieb zehn Tage später der Satiriker Walter Mehring in einem Nachruf, "dann sollte man fast glauben, es habe sich die Naturgewalt ins Mittel gelegt, um einem Zugriff Unwürdiger zuvorzukommen." Die "Unwürdigen" liessen sich indes nicht abhalten, Horváths Namen weiter zu verfolgen. Als sein Roman "Ein Kind unserer Zeit" noch im selben Jahr erschien, wurde er im Reich verboten. - Dasselbe Verhängnis würde das Werk heute erwarten, wenn es ins Russische übersetzt würde. Stephanie Mohrs Dramatisierung im Josefstädter Theater macht das deutlich. Das Schrecklichste aber liegt in dem, was Ödön von Horváths unbestechliche Erzählung beweist: "Man konnte es kommen sehen." <

 

Als Erich Kästner um 1960 in der Münchner Strassenbahn unterwegs war, wurde der Wagen von einer Gruppe junger Männer bestiegen, die sich für den Fasching verkleidet hatten. Sie trugen braune Hemden und rote Armbinden, und beim Eintreten rief einer: "Do samma wieder!" Daraufhin sank ein älterer Herr vom Sitz. Der Schlag hatte ihn getroffen.

 

Eine ähnliche Wiederkehr erlebt nun das Publikum beim Besuch der Vorstellung vom "Kind unserer Zeit" in der Josefstadt. Was Ödön von Horváths Roman für das Naziregime beschrieben hat, trifft passgenau auf den russischen Krieg gegen die Ukraine zu. Zum Ziel gemacht werden – im Roman wie in der Wirklichkeit – "Alte, Weiber und Kinder", obwohl diese Kampfweise "eines Soldaten unwürdig" ist. Der aufrechte Offizier wählt deshalb – im Roman wie im Theater – den Tod: "Das ist nicht mehr mein Vaterland!"

 

Der Ich-Erzähler aber, ein ungelernter Arbeitsloser, der durch den Beitritt zum Heer Achtung und Würde erfuhr, kommt als moderner Simplicius Simplicissimus erst zum Denken, nachdem er den rechten Arm verloren hat und ausgemustert wurde. Vorher war das Mitmarschieren in Reih und Glied sein Lebensinhalt und seine Freude.

 

Horváths Sprache und Darstellungsweise wird von Regisseurin Stephanie Mohr für die Bühne ungeschmälert übernommen. Damit kommt der Klang einer Epoche in den Zuschauerraum, die sich, vor allem in der Unterschicht, viel treuherziger und naiver ausdrückte als die Kinder unserer Zeit; doch die Bereitschaft, "sich dumm machen zu lassen" (wie sich Richard Katz, ein weiterer jüdischer Emigrant, ausdrückte), ist heute nicht geringer als damals.

 

Die Wiederkehr des Gleichen, kaum abgewandelt, macht die Vorstellung schwer erträglich. Das erklärt vielleicht, warum jetzt zwei Drittel des Stammpublikums dem Theater in der Josefstadt fernbleiben. Die Plätze werden mit Schülern gefüllt, die sich merkwürdig still verhalten. Was ist da los?

 

Sie sind überzeugt, sie hätten recht.

Es ist eine schreckliche Bande!

Oder versteh ich sie nicht? Bin ich denn mit meinen vierunddreissig Jahren bereits zu alt? Ist die Kluft zwischen uns tiefer als sonst zwischen Generationen?

Heut glaube ich, sie ist unüberbrückbar. Dass diese Burschen alles ablehnen, was mir heilig ist, war zwar noch nicht so schlimm. Schlimmer ist schon, wie sie es ablehnen, nämlich: ohne es zu kennen. Aber das Schlimmste ist, dass sie es überhaupt nicht kennenlernen wollen!

Alles Denken ist ihnen verhasst.

Sie pfeifen auf den Menschen!

 

(Horváth: Jugend ohne Gott, 1937)

 

Für die eigene Generation diagnostizierte Horváth:

 

Wir, die wir zur grossen Zeit in den Flegeljahren standen, waren wenig beliebt. Wir waren verroht, fühlten weder Mitleid noch Ehrfurcht. Wir hatten weder Sinn für Museen noch die Unsterblichkeit der Seele - und als die Erwachsenen zusammenbrachen, blieben wir unversehrt. In uns ist nichts zusammengebrochen, denn wir hatten nichts. Wir hatten bislang nur zur Kenntnis genommen.

 

Vielleicht liegt die Reaktionslosigkeit der Wiener Jugend auf das "Kind unserer Zeit" am Umstand, dass das Verstehen abgenommen hat? Gerade berichtete die "Süddeutsche Zeitung" von der Studie "IQB-Bildungstrend 2021". Danach erreichen 18,3 Prozent der deutschen Viertklässler das Mindestniveau im Zuhören nicht.

 

Die Zahlen, die die Forscherinnen und Forscher des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in Berlin zur Preisgabe ihrer wissenschaftlichen Zurück­haltung veranlassen, sehen zum Beispiel so aus: 31 Prozent der Viertklässler in Bremen - fast ein Drittel - erreichen beim Lesen nicht einmal das von der Kultus­minister­konferenz festgelegte Mindestniveau. 46 Prozent der Viertklässler in Berlin - fast die Hälfte - unterschreiten das Kompetenz­minimum in der Rechtschreibung.

 

Wie auch immer sie zu erklären ist, die Reaktionslosigkeit der jungen Wiener führte zu ausgesprochen kurzem, gleichgültigem Applaus. (Ein Drittel rührte auch gar nicht die Hände.)

 

Vielleicht trug die Inszenierungsweise zur Ablehnung bei? Stephanie Mohr unterlief jedenfalls den Naturalismus durch den Gestus der minimalistisch andeutenden Verfremdung, wozu Bühnenbild und Kostüme von Miriam Busch Wesentliches beitrugen. Auf diese Weise war das Publikum herausgefordert, das Gesehene gleich dreifach zu übersetzen: 1. Die vorge­tragene Ich-Erzählung in Geschehen, 2. die Abbreviatur der Bühne in Wirklichkeit und 3. das verfremdete Spiel der vier Darstellerinnen in empfundene Gegenwart.

 

Der Regiestil des exakten Danebenzielens, der sich auf diese Weise bei Therese Affolter, Katharina Klar, Susa Meyer und Martina Stilp realisierte, verlangte vom Zuschauer permanente Stellungnahme, Korrektur, Ergänzung. Billiger war der tiefe Eindruck, den Horváth und Mohr mit dem "Kind unserer Zeit" hervorrufen wollten, nicht zu haben.

 

Der antinaturalistische Regiestil ...

... des exakten Danebenzielens ... 

... verlangt permanente Stellungnahme.

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