Armut in goldenem Rahmen. © Barbara Pálffy/Volksoper Wien.

 

 

Die Dubarry. Carl Millöcker/Theo Mackeben.

Operette.

Kai Tjetje, Jan Philipp Gloger, Christof Hetzer. Volksoper Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. Oktober 2022.

 

> Man kann nicht auf die Kritiken gehen. Diese alte Wahrheit kennt jedes Kind, und sie stimmt heute nicht weniger als gestern. Wenn aber das Weltblatt aus München bei der "Dubarry" in der Wiener Volksoper "pures Operettenvergnügen" in den Titel setzt, dann lasse ich mich doch verleiten, das Haus am Währinger Gürtel nach sechs Jahren wieder einmal zu besuchen. Schliesslich steht es seit Beginn dieser Spielzeit unter neuer Leitung. Kammerschauspieler Robert Meyer hätte sich zwar gern um eine Verlängerung des Vertrags beworben, doch sagte man ihm, jetzt sei eine Frau fällig. Und die setzte eben "Die Dubarry" an. <

 

Die drei Stunden des puren Vergnügens, welche die Kritik der "Süddeutschen Zeitung" in Aussicht stellte, begannen mit fünf Schreckensminuten. Das Orchester spielte viel zu laut. Besonders befremdend war der metallische Klang der Geigen. Kantige Schlagzeug-Einwürfe evozierten Vulgarität (angestrebt war aber wohl Schmiss). So steigerte sich die Frage zur Bangnis: Wie werden sich die Sänger diesem Orchester gegenüber behaupten?

 

Meine Einstimmung war indes die denkbar ungünstigste gewesen: Vor dem Verlassen des Hotels hatte ich auf France Musique die legendäre Aufnahme von Sir John Barbirolli mit Bruckners Neunter kennengelernt. Der geadelte Mann hatte das Werk dermassen mit Leben, Intensität und Leuchtkraft gefüllt, dass ich mich noch in der U-Bahn danach zurücksehnte. Wie immer, wenn Meister Offenbarungen bringen, hatte ich mich während des Hörens gefragt: "Warum sah das vorher keiner?", und die Bögen bewundert, die Barbirolli aus den Begleitfiguren heraustrieb, um durch überlegene Disposition die Motive miteinander in Beziehung zu setzen.

 

Doch dann kam ich in das Haus am Gürtel. Ein stärkerer Kontrast lässt sich kaum denken. Einerseits Anton Bruckners neunte Symphonie (dem lieben Gott gewidmet), andererseits "Die Dubarry", Operette in neun Bildern von Carl Millöcker, bearbeitet von Theo Mackeben und in der musikalischen Fassung von Kai Tjetje. An der Spitze der Orchester einerseits Barbirolli, anderseits Tjetje.

 

Als nach der Ouvertüre die Sängerinnen auftraten, kam die Frage, wie sie sich gegenüber dem Orchester würden behaupten können, zur Antwort: durch Verstärkung! Die Elektrizität steigerte die Lautstärke um weitere fünf bis zehn Dezibel. Im Zuschauerraum konnten die älteren Personen ihre Hörgeräte abstellen. Die Kritik der "Süddeutschen" hatte das Boostern unterschlagen - gleich wie der Spielplan und das Programmheft der Wiener Volksoper. Jetzt aber quetschten billige Lautsprecher das Spektrum der Stimmen auf die Qualität der vormaligen Langwellenfrequenz ein, und der Technik im Theater war es versagt, den Klang von dort her zu bringen, wo die Leute standen.

 

Damit nicht genug. Auf die Drehbühne stellte Christof Hetzer einen Würfel. Das Möbel drängte das Spiel an die Rampe, schränkte die Bewegungen ein und führte zu Fläche statt Tiefe. So aber konnte Operettenzauber nicht aufkommen. Angesichts der einfältigen Handlung begann ich mich nach der Dekonstruktion des Regietheaters zu sehnen: Das hätte wenigstens etwas zu beissen gegeben. Doch Jan Philipp Gloger, Schauspielchef von Nürnberg, beliess das Werk in der Konventionalität, ohne mit der Könnerschaft der Musical-Professionals meine Langeweile vertreiben zu können.

 

Nach fünfviertelstündiger Qual verliess ich das Theater in der Pause und verzichtete auf den Auftritt Ludwigs XV. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich durch ihn die Sache entschei­dend verbessern würde. Erst am nächsten Morgen kam mir in den Sinn, dass der Kritiker der "Süddeutschen" von ihm besonders geschwärmt hatte. Der Name des Darstellers sagte mir nichts. Aber Wikipedia kennt ihn: Harald Schmidt.

 

Ich werde jetzt gleichwohl keinen Fernseher anschaffen. Aber ich werde ab jetzt keiner Kritik mehr trauen.

 

Der Star des Abends kommt erst nach der Pause ... 

... aber was immer die Operette zeigt ... 

... ist Fläche anstatt Tiefe.

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