Das Bühnenbild ist eine Sensation. © Marcel Urlaub.

 

 

Der Würgeengel. Sebastian Baumgarten, frei nach dem Film von Luis Buñuel.

Schauspiel.

Sebastian Baumgarten. Volkstheater Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. Oktober 2022.

 

> Das Bühnenbild ist eine Sensation. Aber es steht nicht allein. Mit ihm spielt das wechselnde Licht, das aus den Scheinwerfern und Projektoren kommt. Dafür werden die Positionen "Lichtdesign" und "Video" ausgewiesen. Kostüme und Klänge (das heisst "Sounddesign") vervollständigen die rätselhaft mobile Installation. Am Ende zeichnen neun Namen für das Stück verantwortlich. Zusammen mit dem Ensemble führen sie das Volkstheater auf einen Gipfel, für dessen Besuch der Tripadvisor fünf Punkte geben würde. <

 

Geschichtlich betrachtet liegt "Der Würgeengel" des Wiener Volkstheaters auf einer Linie, die ans Ende des Mittelalters zurückreicht. Damals begannen die grossen kulturellen Strömungen paarweise zu verlaufen. Im 16. Jahrhundert: Renaissance und Reformation. Im 17. Jahrhundert: Fürstlicher Prunk und irdische Hinfälligkeit (vanitas). Im 18. Jahrhun­dert: Aufklärung und Empfindsamkeit. Im 19. Jahrhundert: Klassik und Romantik. Im 20. Jahrhundert: Engagement und Absurdität.

 

Diese Dialektik spiegelt sich jetzt in den Wiener Spielplänen. Im Burgtheater läuft die "geschlossene Gesellschaft" von Jean-Paul Sartre, ein Musterstück des Existenzialismus, und auf der "drüberen" Seite des Rings "Der Würgeengel", ein Musterstück der absurden Bewegung.

 

Die Dialoge, die da geführt werden, gleichen Fassaden mit blinden Fenstern. Einzelne Sätze führen nirgends hin. Andere eröffnen die weitesten Aussichten: "Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott." Was beim "Würgeengel" verhandelt wird, kriegt man nicht mehr auf die Reihe.

 

Diese Auffassung der Welt führt zurück zu Georg Büchner (von dem alle Zitate herstammen). In den Augen seiner hellsichtigen Figuren ist Sinnleere die Signatur der Zeit:

 

Was die Menschen nicht alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile, und - das ist der Humor davon - alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken, warum, und meinen Gott weiss was dazu. Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe, diese Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im Grunde nichts als raffinierte Müssiggänger.

 

Weil die Leere das Thema ist, setzt sich "Der Würgeengel" aus Anspielungen, Angebereien, Zitaten und Hochstapeleien zusammen. "Wir stehen immer auf dem Theater." Auf dem Theater verwandelt sich der Inhalt zu Form, die Form zu Inhalt:

 

Haben Sie das neue Stück gesehen? Ein babylonischer Turm! Ein Gewirr von Gewölben, Treppchen, Gängen, und das alles so leicht und kühn in die Luft gesprengt. Man schwindelt bei jedem Tritt.

 

Was haben Sie denn?

 

Ach, nichts! Ihre Hand, Herr! die Pfütze - so! ich danke Ihnen. Kaum kam ich vorbei; das konnte gefährlich werden!

 

Sie fürchteten doch nicht?

 

Ja, die Erde ist eine dünne Kruste; ich meine immer, ich könnte durchfallen, wo so ein Loch ist. - Man muss mit Vorsicht auftreten, man könnte durchbrechen. Aber gehen Sie ins Theater, ich rat es Ihnen!

 

Mit auf dem Faktum, dass wir uns auf unsicherem Boden bewegen - das Flache könnte tief sein, das Tiefe flach - verwandeln Regisseur Sebastian Baumgarten und sein Team im Volkstheater Buñuels Film in Theater. Ihre virtuose Adaptation schafft Durchbrüche zwischen normalerweise getrennten Stockwerken. Gleichzeitig vermitteln sie die Erfahrung, dass wir nichts wissen können: "Geh, wir haben grobe Sinne." Wir erkennen die Phänomene wohl. "Aber - da, da, was liegt hinter dem?"

 

Nur eins steht fest: Das Ensemble, das Kay Voges, der neue Volkstheater-Intendant, nach Wien gebracht hat, ist beachtlich. Sobald das die Stadt mit ihren groben Sinnen erkennt, wird alles gut.

 

Die virtuose Buñuel-Adaptation ... 

... schafft Durchbrüche zwischen ... 

... den verschiedenen Stockwerken. 

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