Gross herauskommen! © Yoshiko Kusano.

 

 

Hänsel & Greta & The Big Bad Witch. Kim de L'Horizon.

Schauspiel.

Ruth Mensah, Charolotte Martin. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 28. September 2022.

 

> "Uraufführung" steht auf dem Spielplan. Aber gemessen an den Erwartungen, die dieser Begriff weckt, fällt das Berner Schauspiel jämmerlich durch. Im Irrgarten der Wörter, die Kim de l'Horizon mit den Kriechgewächsen der Ökofeministin Starhawk und der Genderforscherin Donna Haraway aufgehübscht hat, erkennt man nur, was man schon immer wusste. Und in der Inszenierung von Ruth Mensah gefällt einem bloss, was einem schon immer gefiel. Also viel Leerlauf. Und die Bestätigung alter Auffassungsweisen. Dazugehören ist alles. Ästhetische und geistige Ansprüche, neue Einsichten, Leben - das war ... ach, wann war das schon? Gestern vielleicht? Heute jedenfalls nicht. <

 

Das Fortleben des Vergangenen im Gegenwärtigen: Da ist Uraufführung im kleinen Raum von Vidmar 2, der Spielstätte fürs Experimentelle, und das Rezept dazu verfasste Friedrich Schlegel im Jahr 1798. Damals statuierte er:

 

Die romantische Poesie ist eine progressive Universal­poesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloss, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen.

 

Gefragt ist seitdem nicht mehr die klare, wohldefinierte Form, sondern das Konglomerat, das Durcheinander, das Anything goes. An diese 1798 progressive Auffassung halten sich jetzt im Herbst 2022 der Autor Kim de l'Horizon, die Regisseurin Ruth Mensah und die Bühnenbildnerin Charlotte Martin. Ausschlag­gebend für ihre "Universalpoesie" ist, um nochmals Schlegel zu zitieren, "dass die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide".

 

"Bald mischen, bald verschmelzen" sich demzufolge bei "Hänsel & Greta & The Big Bad Witch" Bestandteile aus dem Märchen der Brüder Grimm, Aussagen von und zu Greta Tunberg, Parolen zu Aktivismus und Aktivismuskritik, Zitate aus Wissenschaft und Schamanismus, feministische, biologische und spirituelle Lehren, dazu Weltuntergang und Emigration zum Mars. Die Sätze werden eingebettet in Sound, Bewegung, Kostüm, Rauch, Nebel, Gestik und Geschrei, die sich ebenfalls "bald mischen, bald verschmelzen".

 

Auf diese Weise erfolgt im Berner Vorort Köniz jetzt das Fortleben des Vergangenen im Gegenwärtigen. Am 10. Mai jedoch formulierte die Theaterreferentin der "Süddeutschen Zeitung" bereits ihren Abgesang aufs Rezept, mit dem man es in der zurückliegenden Zeit ans Berliner Theatertreffen schaffte:

 

Schaut man sich an, was dieses Festival als die zehn bemerkenswerte­sten Inszenierungen eines Jahres vorstellt, zumindest nach Ansicht der siebenköpfigen Kritikerjury, dann ist das doch eine eher nerdige Spezialistenauswahl für den Diskurs in der Bubble. Ein theaterent­wöhntes Netflix-Publikum, das gute Geschichten und vielschichtige Charaktere liebt, ist auf diese Weise eher nicht aus dem Home-Modus zu locken. Es schlägt sich da in der Auswahl eine generelle Entwicklung im Theater nieder: die zum Dramaturgenstrebertum und zur Blasenbildung im Namen des Korrekten, Woken und Guten.

 

Im Geist dieses Dramaturgenstrebertums wirft jetzt "Hänsel & Greta & The Big Bad Witch" seine Blasen. Typisch deutsch, hätte dazu Madame de Staël gesagt. Als sie 1804 Berlin und Weimar aufsuchte, um die deutsche Elite kennenzulernen, waren "ihre ewigen Fragen bei jedem Dichtungswerke: 'quel en est le but? [was ist das Ziel?]' ", berichtet Schillers Schwägerin Caroline von Wolzogen. Und sie gesteht: "Darauf stand selten eine Antwort in unserm Kunstkatechismus."

 

Im Fall von "Hänsel & Greta & The Big Bad Witch" liegt die Antwort nach dem Ziel aber auf der Hand: Gross herauskommen! Das war beim Theater schon immer so. Insofern bringt die Berner Uraufführung auch in dieser Beziehung nichts Neues.

 

Bald mischen ... 

... bald verschmelzen ... 

... doch wozu? 

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt 0