Eines Morgens verhaftet. © Joel Schweizer.

 

 

Kafka in Farbe. Max Merker und Aaron Hitz.

Schauspiel.

Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. September 2022.

 

> "Kafka in Farbe" bedeutet: Nicht in schwarz-weiss. Und auch nicht grau in grau. Der schwierige Autor, den Walther Killy in all seinen Universitätsjahren nie behandelt hat (weder an der FU Berlin noch an der Georg-August-Universität Göttingen noch an der Universität Bern), wegen des Umstands: "Bei Kafka gerät man ins Bodenlose" – dieser Schwierige kommt jetzt in Biel/Solothurn so leicht und beschwingt daher wie ein Schmet­ter­ling. Man kann lachen, man kann Gewicht ablegen ... und man kann Liebe, Krankheit und Tod (also die letzten Dinge) in der Behandlung durch das Theater als befreites Spiel erleben: "Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst." <

 

Fünfviertelstunden dauert der Spass. Und weil "Kafka in Farbe" ein Spass ist, wird viel gelacht; obwohl die Aufführung – das macht sie bemerkenswert – auch mit den Komplementärfarben arbeitet. "Ziehen Sie sich aus!", befiehlt Milva Stark in der Rolle des grotesk übergewichtigen Theaterdirektors dem ergreifenden Kafka-Darsteller Aaron Hitz. Soeben hat sein Alter Ego, der Prager Auswanderer Karl Rossmann, eine Rolle am grossen Naturtheater von Oklahoma bekommen, und jetzt kostümiert er sich in hastiger Nervosität zum Gaudi der Premierenzuschauer auf offener Bühne um. Die Rolle, die er übernehmen soll, ist das Sterben des tuberkulosekranken vierzigährigen Franz Kafka im Sanatorium Kierling (Niederösterreich) am 3. Juni 1924. Hinter der Rolle liegt eine unbekannte Schuld: "Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet."

 

In diesem Spielbeginn wird die Mehrbödigkeit und Fluidität schon fassbar, mit der Max Merker und Aaron Hitz ein Schauspiel aus dem Leben, den Briefen und den Werken Franz Kafkas collagiert haben. Die ersten Minuten stellen das Sterben des Schriftstellers und den Ausgang seines ersten, zehn Jahre zuvor geschriebenen Romans "Der Verschollene" (später publiziert unter dem Titel: "Amerika") nebeneinander. In "Amerika" bricht die Handlung ab mit dem Satz: "Alle Angst der letzten Stunden verschwand." Und im Theater wird auf die Bühnenrückwand projiziert: "Ich verlasse dich jetzt." So fliessen in heiterem, lockerem Spiel von fünfviertelstunden Dauer Leben und Literatur, Ernst und Spass, reale und erdichtete Menschen ineinander - und hinter der wohlgelaunten Artistik wird das Dasein erfahrbar als grosse Vorläu­fig­keit von begrenztem Wert.

 

Theodor Fontane an seine Frau:

 

Jetzt beherrscht mich das eine Gefühl: es verlohnt sich nicht mehr. Alles sieht mich, ich will nicht sagen gleichgültig, aber in seiner absoluten Gleichwertigkeit an. Ein guter Bettler ist geradesoviel wert wie ein guter König: alles ist nur Rolle, die durchgespielt wird.

 

Auf der Bühne von Theater Orchester Biel Solothurn wird die "absolute Gleichwertigkeit" aller Rollen dargestellt durch den Stil des Hintupfens. Wer mit Kafkas Werk vertraut ist, wird die Andeutungen verstehen als Falltüren, die ins Bodenlose führen: in die Bodenlosigkeit von Kafkas Beziehungsproblemen, die Bodenlosigkeit seiner Weltauffassung.

 

Dazu Margret Walter-Schneider, die eminente Kafkaforscherin aus Lüterkofen:

 

Was für Proust Wahrheit ist, das heisst Kafka "Gespenst"; nämlich alles das, was keinen andern Existenzgrund hat als Kafkas Glauben, muss Kafka darum "Gespenst" heissen, weil es auf etwas gründet, das nicht ist ("Ich bin ja nichts, gar nichts."). Wahrheit, die aus wenig oder überhaupt nichts Fassbarem besteht, geglaubte Wahrheit, nur von ihm geglaubte Wahrheit, ist bei Kafka immer dem Verdacht ausgesetzt, blosses Gespenst zu sein.

 

Aus diesem Grund liegt Kafkas Welt und Dichtung im Grau:

 

Wer bin denn ich? Ein Schatten, der Dich unendlich liebt, den man aber nicht ans Licht ziehen kann. Pfui über mich!

 

Kafkas trostloses Grau wird nun aber durch die Aufführung am Jurasüdfuss wagemutig in Farbe getaucht. Und die Mittel des Varietees (im Timing an zwei, drei Stellen etwas zu breit) befreien den Zuschauer für die Dauer von Fünfviertel­stunden vom Ernst des Daseins. Das Team, das solchermassen die Heiterkeit der Kunst heraufbeschwört, folgt Jean Pauls These aus der "Vorschule der Ästhetik":

 

Da es ohne Sinnlichkeit überhaupt kein Komisches gibt: so kann sie bei dem Humor als ein Exponent der angewandten Endlichkeit nie zu farbig werden.

 

Durch den Gestus des Humors wird jetzt "Kafka in Farbe" zum Geschenk für alle, die sich und die Welt von der Schwärze bedroht sehen.

 

Absolute ... 

... Gleichwertigkeit ... 

... aller Rollen. 

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