Betörende Schönheit im Duogesang. © Martin Sigmund.

 

 

Norma. Vincenzo Bellini.

Tragedia lirica.

Jossi Wieler, Sergio Morabito, Anna Viebrock. Staatsoper Stuttgart.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 4. Mai 2022.

 

> Repertoiretheater. Die Stuttgarter Staatsoper gehört zu den wenigen Häusern, die noch nach diesem System funktionieren. Die Met gehört dazu. Covent Garden. Die Scala. Und eben Stuttgart. Da sind die grossen Produktionen "im Repertoire"; können immer wieder hervorgeholt und neuen Generationen vorgeführt werden. Zu den Rekordhaltern zählt Margarete Wallmanns Inszenierung der "Tosca" an der Wiener Staatsoper aus dem Jahr 1958. Die "Norma" des Regieteams Jossi Wieler und Sergio Morabito an der Stuttgarter Staatsoper stammt aus dem Jahr 2002. Fürs "Abo 44" wurde soeben die 73. Vorstellung gegeben. <

 

Dass Felice Romani für "Norma" ein robustes und theatralisch wirksames Libretto geschrieben hat, wird von der Stuttgarter Inszenierung eindrücklich bestätigt, obwohl das Regieteam von Jossi Wieler und Sergio Morabito die Tragödie zeitlich und örtlich umgesiedelt hat. Die Handlung spielt nicht mehr im vorchristlichen Gallien zur Zeit der römischen Besetzung. Die erste Szene führt nicht mehr in den "heiligen Wald der Druiden". Sondern jetzt entwickelt sich die "tragedia lirica" im italienischen Stiefel von Don Camillo und Peppone. Die Priesterin Norma vollzieht ihre sakralen Riten in einem heruntergekommenen Kirchenraum mit grotesken Starkstrom­kabeln und hässlichem Neonlicht (Bühnenbild und Kostüme Anna Viebrock).

 

Bei dieser ästhetischen, zeitlichen und örtlichen Verschiebung stimmt freilich manches nicht. Unter alten Eichenbäumen singt der Chor inbrünstig von der Befreiung Galliens. Er erbittet die Vernichtung Roms, der Stadt der Cäsaren, durch den Rachegott Irminsul. Der Text evoziert also die Situation des Jahres 50 v. Chr. In der Stuttgarter Bühnenwirklichkeit aber ist das Mittelwellenradio bereits erfunden. An wehrbereite Männer werden Maschinengewehre verteilt. Ein blutiger Aufstand liegt in der Luft.

 

Damit steht die Inszenierung im Zeichen des Auseinanderklaf­fens. Da ist die antik-heidnische Welt des Librettos. Ihr entgegengesetzt aber wird der Realismus der Visconti-Zeit durch Personen­führung, Bühnenbild und Kostüme. Im Lauf der Aufführung indes tritt immer deutlicher zutage, dass das Auseinanderklaffen Normas Grundthema widerspiegelt.

 

Auch die Priesterin ist nämlich gespalten. Bei ihr fallen Reden und Handeln, öffentliche Rolle und private Situation, Tatsächliches und Vorgegebenes in derart streng geschiedene, unvermittelbare Bereiche, dass die Spaltung nur noch durch den Tod überwunden werden kann. Der Konflikt in der Inszenierungs­form entspricht mithin dem Auseinanderklaffen in der Hauptperson – und dazu noch der Gespaltenheit der Novizin Adalgisa und des Verführers Pollione.

 

Das Auseinanderklaffen nehmen Jossi Wieler und Sergio Morabito durch die Art ihres Erzählens in der Grossform noch einmal auf. Das Original von Vincenzo Bellini und Felice Romani ist eine zerschnipselte Nummernoper mit krassen Bildwechseln. Ist eine Szene eingerichtet, wird gesungen. Statik beherrscht demnach die Nummernoper. Sie setzt sich aus einer Abfolge von Steharien zusammen.

 

Diesem Prinzip stellt nun die Stuttgarter Produktion eine kausal-realistische Bewegung entgegen. Durch einen filmischen Fluss, bei dem alle Elemente miteinander interagieren, treibt sie die Oper voran. Das Spiel erfasst die Requisiten ebenso wie die Figuren, den Raum ebenso wie das Licht. Jeder Gegenstand, jeder Moment, jeder Mensch hat seine Geschichte. Und jede Person, auch die nebensächlichste, wird durch ihre Reaktionen individualisiert und charakterisiert. So gewinnt die Aufführung – im Gegensatz zum plakathaft-flächigen Stil der Bellini-Zeit – Tiefe, Perspektive und Differenzierung.

 

An der 73. Vorstellung steht die musikalische Realisation hinter dem szenischen Konzept nicht zurück. Auch das gehört zum Auftrag des Repertoiretheaters: Jede Wiederaufnahme soll die Qualität einer Premiere haben. Yolanda Auyanet als Norma und Diana Haller als Adalgisa lösen die Forderung glänzend ein. Jede bietet eine gesanglich und darstellerisch gültige Leistung. Doch wenn sie zusammen singen – im Duo der grossen achten Szene des ersten Akts und im Duo der dritten Szene des zweiten Akts – erreicht die musikalische Verschlun­gen­heit ihrer Stimmen betörende Schönheit.

 

Von Lili Lehmann, dem grossen dramatischen Koloratursopran des 19. Jahrhunderts, ist der Satz überliefert: "Es ist leichter, drei Mal Brünhilde als ein Mal Norma zu singen." Und Maria Callas hatte geschworen: "Am Tag, wo ich nicht mehr Norma singen kann, höre ich auf zu singen." Das trat 1965 ein, als die Callas im zweiten Akt vor den Schwierigkeiten der Partie kapitulieren und die Vorstellung abbrechen lassen musste.

 

In Stuttgart hält Yolanda Auyanet den Part nicht nur bis zum Schluss durch, sie steigert ihn sogar. Das "Casta Diva" wirkt noch gedämpft; aber nicht, weil die blasse Mondgöttin angebetet wird, sondern weil Norma in der Rolle der Priesterin gespalten ist; sie spielt der Menge etwas vor, von dem sie weiss, dass es falsch ist. So prägt das Auseinanderklaffen die musikalische Interpretation.

 

Am Schluss jedoch zeigt die Stimme von Yolanda Auyanet vollen Glanz und Geschmeidigkeit, und sie realisiert damit ein letztes Auseinanderklaffen: Künstlerisches Aufblühen im Moment der Vernichtung. Kann eine Oper schöner zu Ende gehen?

 

Trennung auf der Bühne ...

... in den Beziehungen ... 

... und der Gemeinschaft. 

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