Wenn das Theater als Gesamtkunstwerk funktioniert. © Marcella Ruiz Cruz.

 

 

Die Schwerkraft der Verhältnisse. Fassung von Bastian Kraft nach dem Roman von Marianne Fritz.

Schauspiel.

Bastian Kraft, Peter Baur, Nils Strunk, Jonas Link. Burgtheater Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 10. März 2022.

 

> 1978 gewann die damals dreissigjährige Österreicherin Marianne Fritz in Biel den soeben gegründeten Robert-Walser-Preis für ihren Debütroman "Die Schwerkraft der Verhältnisse". 2007 starb sie im Alter von 59 Jahren in Wien. Vor drei Monaten nun, im Dezember 2021, brachte das Burgtheater den Roman in einer Fassung von Bastian Kraft so sensibel auf die Bühne, dass ein anrührender Abend über die verknäuelten Verhältnisse des Lebens entstand. <

 

Wenn das Theater als Gesamtkunstwerk funktioniert, steigert es durch das Zusammenwirken der Faktoren Raum, Klang, Licht und Mensch das Potenzial der gedruckten Prosa zu einer tiefen, nachhallenden Begegnung. Dieses Glück ist Marianne Fritz' "Schwerkraft der Verhältnisse" widerfahren, indem Regisseur und Bearbeiter Bastian Kraft auch Pausen, Stille und stummes Spiel ins Feld zu führen verstand. So ergaben sich wundersame Momente.

 

"Hast du einen Wunsch?", fragt der Musiklehrer und Obergefreite Rudolf (Nils Strunk) die scheue 22-jährige Berta (Katharina Lorenz). Ja: Die "Aquarelle" von Johann Strauss. Und dann noch den Donau-Walzer. Nur das? Meinetwegen. – Während die Töne aus dem Keyboard aufsteigen, etwas unregelmässig geklimpert wie immer bei improvisiertem Spiel aus dem Gedächtnis, beginnt Berta, die Arme auszubreiten und den Körper leise zu drehen. Rudolf verlässt das Instrument, das ohne ihn weiterspielt, und nimmt Berta in die Arme. Versonnen bewegen sich die beiden im leeren Raum. Berta legt den Kopf auf Rudolfs Schulter. In ihre Augen kommt Glanz. Rudolf zieht Berta an sich. Das Theater zeigt die aufkeimende Liebe. Es braucht dafür keine Worte.

 

Dann die beengten Verhältnisse. Rudolf ist am Ende des Weltkriegs gefallen. Sein Freund Wilhelm (Markus Meyer) hat Berta geheiratet. Aus dem Boden steigt die verwinkelte Wohnung auf und fährt nach vorn (Bühne Peter Baur). Wie Puppen sind Vater und Mutter, Bub und Mädchen mit angezogenen Knien in Kompartimente gequetscht, die durch Farbe und Form die Ärmlichkeit der Fünfzigerjahre evozieren. Das Theater braucht keine Worte. Es kann die Unterschicht zur Darstellung bringen.

 

An der Schule werden die Kinder gemobbt. Es droht die Versetzung in die Sonderklasse. Ergreifend, wie die kleinen Wesen ihren Ranzen gebeugt über den Boden schleifen. Gegenüber der Lehrerin bettelt die Mutter um Nachsicht: "Bitte warten Sie nur noch ein Jahr!" Doch die Lehrerin bleibt unnachgiebig: "Sie müssen verstehen: Bei vierzig Kindern kann ich mich nicht um jedes einzelne kümmern." Im Video von Jonas Link erscheint der überlebensgrosse Kopf der Lehrerin als Silhouette. Das Theater kann die Faktoren ineinanderlaufen lassen: Schatten­spiel und lebendiger Mensch; unnennbare Schwerkraft der Verhältnisse und empfundenes Leid.

 

Wie Medea, die Fremde, die Barbarin, bringt die grüblerische Berta, die im Leben die ersehnte Innigkeit nicht gefunden hat, ihre Kinder um. Am Selbstmord gehindert, kommt sie in eine Anstalt und verstummt. Das harte Licht von Friedrich Rom auf der weissen Wäsche eines Spitalbetts macht die Verlassenheit sichtbar. Das Theater kann das.

 

Derweil überleben die Pragmatiker. Wilhelmine (Stefanie Dvorak) hat sich Wilhelm geangelt. Das verheiratete Paar sitzt am Frühstückstisch. Sie regiert. Er gehorcht. Die Szene wird als Schattenspiel mit riesigen Umrissen auf den Hintergrundprospekt geworfen. Die strenge Ordnung der unbescholtenen Leute zeigt sich am starren Muster der gehäkelten Tischdecke. Schwarz - Weiss. Ein Kommentar ist unnötig. Die Szene formuliert ihn.

 

So bringt das Burgtheater mit klug gesetzten Mitteln die "Schwerkraft der Verhältnisse" zart und respektvoll auf die Bühne. Eine grosser Abend.

 

Enge Wohnverhältnisse. 

Harte Vorwürfe. 

Unrealisierbare Wünsche. 

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