Eine überwältigende Aufführung. © Rob Lewis.

 

 

Das Rheingold. Richard Wagner.

Bühnenfestspiel.

Nicholas Carter, Ewelina Marciniak, Mirek Kaczmarek, Bernhard Bieri, Dominika Knapik. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 13. Dezember 2021.

 

> Wagner, heisst es, sei langweilig. Und so fängt's auch an. Anstelle übermütig scherzender Rheinnixen gibt's hinter durchsichtigen Plastikfolien rhythmische Männergymnastik. Dann betritt ein gestelzter Krieger die Bühne. Das soll der Auftritt Alberichs sein. Der "Vorabend" (so Richard Wagners Bezeichnung für die erste Tranche des "Rings des Nibelungen") hebt an in einem lahmen Bühnenbild der 1960er Jahre, und unwillkürlich fragt man sich: "Wie lange geht's noch?" "Nicht mehr lange!", antwortet das Regieteam. "Lass uns Zeit! Wir müssen das Drama so aufbauen, dass es durch vier Abende hindurch trägt." Okay, okay. Ergeben lehnt sich das Kind zurück. Doch nun beginnt der Zauber von Wagners narkotischer Musik zu wirken. Der Mann hat ja auch in vier Abenden gedacht. Da muss der Raum sprechen können: Die Ausdehnung der Bühne, die Ausdehnung der Zeit. Sie werden gefüllt durch eine Spannung, die aus der Handlung, dem Gedanken, dem Problem und der Komposition erwächst und, wenn's gut geht, bis zum letzten Takt zunimmt. Und das tut's. Da liegt das Wunder. Zu verdanken ist's dem überlegenen Dirigat von Nicholas Carter, dem souverän-gelassenen Berner Symphonie­orchester und einer exzeptionellen Sängerriege. Im Ganzen ist das Ensemble von einer darstellerischen und musikalischen Kraft, wie sie in den letzten fünfzig Jahren am Kornhausplatz noch gar nie zu hören war. So gibt der "Vorabend" am Ende ein imponierendes Versprechen für die folgenden drei Teile. Man darf sich freuen. <

 

Bemerkenswert an diesem "Rheingold" ist die Unaufgeregtheit, mit der die Beteiligten zuwerke gehen. "Der Ring des Nibelungen" ist ja mit Bedeutung, Geschichte, Tradition und Gegentradition überfrachtet wie kein zweites Werk. Alle im Zuschauerraum wissen Bescheid und können gescheit darüber reden. Die Kritiker kennen die Partitur auswendig (oder tun so) und zitieren aus dem Kopf die grossen "Ring"-Projekte des letzten Jahrhunderts, die sie mit dem aktuellen abwägen und in Beziehung setzen. Zu jeder Note gibt es Disserta­tionen, Aufsätze, Kommentare, Habilitationen, und das nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Französisch, Englisch, ja sogar Japanisch. Und so setzen sich die Besucher in die Wagner-Premieren wie zu einer Weinverkostung im Hôpital de Beaune: Bewaffnet mit Nüchternheit, Spezialwissen, ehrfurchtgebie­tender Kenntnis der Tradition und einem Distink­tionsvermögen für Aromaunterschiede, dem gegenüber sich die Experten der "Diskothek" in SRF-2 Kultur ausnehmen wie Schusterbuben.

 

Dementsprechend gibt sich unter diesen Vorzeichen die Bühne. Die Sänger schreiten einher wie die Hohepriester zum Baals­opfer. Wagners Gattungsbezeichnung "Bühnenfestspiel" wird von Orchester und Regie aufgefasst, als müsse die Produktion vor den beiden kaiserlichen Augenpaaren gleichzeitig bestehen können: Den Augen von Wilhelm (dem Kaiser des deutschen Reichs) und den Augen von Joachim (dem Kaiser der "Süddeutschen"). So verschränken sich in der Umsetzung des "Rings" bis heute Pomp und Intellektualität wie in der Partitur des Gründervaters von Bayreuth.

 

Diese Wolke lastet – lastete, muss man heute sagen, denn die grossartigen Künstler haben sie verscheucht! – diese Wolke lastete auch über der Berner Produktion, seit sie angesagt worden war. Denn in der Bundesstadt ist "Der Ring des Nibelungen" noch nie aufgeführt worden. "Tannhäuser" war das grösste, was am Kornhausplatz realisiert werden konnte. Und sogar dieses Werk war noch zu gross, als es 1903 zur Eröffnung des Stadttheaters gegeben wurde – oder umgekehrt: der Orchestergraben war eigentlich zu klein.

 

Als man in den 1970er Jahren die Gesamtrenovation des Hauses zu planen begann, lautete ein Argument, man werde danach den Orchestergraben so vergrössern können, dass Wagner spielbar werde. Und so gab man 1984 bei der Wiederöffnung nochmals "Tannhäuser"; jetzt mit vollem Orchester – und dem Nachteil, dass der Zuschauerraum dafür zu klein war und das Klangvolumen zu gross. Demnach war es, von der Aufführbarkeit her gedacht, gescheit, die Finger in Bern vom "Ring" zu lassen.

 

Doch nun ereignet sich's, dass das künstlerische Team die Kraft hat, den ganzen Ballast beiseite zu wischen und der Bundesstadt "Das Rheingold" in einer derart unaufgeregten Weise zu präsentieren, dass die Produktion einem Geschenk gleichkommt. Die Apothekerin auf dem Nebensitz, die bis zur Pensionierung noch keinen Ton Wagner gehört hat, erhebt sich benommen: "Was für ein starker Eindruck! Die Aufführung hat mich süchtig gemacht."

 

Der Erfolg verdankt sich dem klugen Einsatz der darstelleri­schen Mittel. Das Licht von Bernhard Bieri nimmt die Bezeich­nung "Vorabend" beim Wort und realisiert ein lastendes Dämmer, das dem Stromgrund (wo die Handlung anhebt) ebenso angemessen ist wie der Unterwelt Mimes (wo der Ring geschmiedet wird) und dem fatalen Erdenrund (wo die Gier nach dem Rheingold zum ersten Mord führt). Bühnenbildner Mirek Kaczmarek und Regisseurin Ewelina Marciniak behandeln die Szene, die das historische Goldportal freigibt, nüchtern als Spielfläche. In grauen Plastikkisten, die mit "Dekor" angeschrieben sind, rollen Bühnenarbeiter die Requisiten an ihren Einsatzort. "Wir machen euch nichts vor", sagt das Team. "Wir spielen bloss Theater." Und damit ist der Verlogenheit, dem Pathos und der kritiklosen Ehrfurcht die Luft entzogen. Im Raum entfaltet sich sich nur noch die nackte Handlung, durchwoben mit dem Klang von Stimmen und Instrumenten.

 

Ein Minimum an Gerät markiert die Spielstätten: Für Alberichs Kommandozentrale steht ein grauer Chefsessel. Der Aufenthalts­ort des Göttervaters mit seiner Frau besteht aus einer schrägen Liege. Mimes proletarische Schmiedewerkstatt realisieren ein paar nackte Tische und Stühle. Dazwischen herrscht Leere. Doch durch das Zusammenwirken von Spiel, Text und Musik füllt sich die Bühne mit Sinn und Einsicht. Und da liegt das Wunder, wenn Wunder heisst: Eintritt eines Jensei­tigen in die gegebene Alltäglichkeit.

 

Das Jenseitige ist hier die geistige Verknüpfung von Wunsch und Gier, Recht und Unrecht. Indem die Bühne diese Elemente unaufgeregt ins Spiel bringt und verhandelt, wird sie unmerklich zum Welttheater, wie es Wagner vorschwebte, aber für heutige Augen: mit Humor und Understatement; nicht mit mit den Speckringen der Angeberei. In der Unscheinbarkeit liegt die Grösse dieser Produktion. (Qu'on se le dise.)

 

Rein muskulös und unverfettet ist auch die musikalische Interpretation. Mit dieser Auffassung steigert Nicholas Carter das Berner "Rheingold" zur Vollkommenheit. Das zunehmend gelöste Berner Symphonieorchester realisiert eine flüssig-elegante Spielweise (das Wort "flüssig" ist hier mehrfach am Platz), und damit übernimmt der klangliche Part immer souveräner die von der Partitur geforderte Mitspielerrolle.

 

Doch das Wunderbarste liegt in der Tatsache, dass es dem neuen Chefdirigenten gelungen ist, das Haus von seinem jahrzehnte­alten Fluch zu befreien. Wie schon bei Verdi (Don Carlos) ist nun auch bei Wagner das Orchester nie, aber wirklich gar nie zu laut. "So viele Worte in einer grossen Stadt in jedem Augenblick gesprochen werden, um die persönlichen Wünsche ihre Bewohner auszudrücken, eines ist niemals darunter: das Wort 'erlösen'." Doch nun hat Nicholas Carter "General Stumms Gedanken über die Wortgruppe Erlösen" in Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" um einen neuen Abschnitt ergänzt. Das musikalische Bern wird ihm auf Jahre hinaus dankbar sein.

 

Die Sänger sind allesamt gut, einzelne hervorragend. Josef Wagner als Wotan: überwältigend. In der Artikulation muster­haft, im Ausdruck packend. Robin Adams als Alberich: darstel­lerisch facettenreich, stimmlich eine Wucht. Marco Jentsch als Loge: gesanglich untadelig, körpersprachlich präsent. Michal Proszynskj als Mime und Christian Valle als Fasolt: zum Aufmerken. Und dann heisst es auf dem Besetzungszettel: "Tänzer*innen". Als Choreografin verlängert Dominika Knapik die Handlung in eine stumme, aber beredte Entourage und ein kommentierendes Eigenleben von Umrissen und Schatten, der­gestalt, dass man das Fehlen von Video gar nicht bemerkt. – Ein weiteres Plus dieser unaufgeregten, souveränen Wagner-Aufführung, die sich jetzt schon in die Geschichte des Hauses eingeschrieben hat.

 

Die Choreographie ... 

... gibt der Handlung ... 

... ein Eigenleben. 

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