Antonia Scharl: Tausend Facetten, zusammengebunden durch das Geheimnis des Unbewussten. © Matthias Käser.

 

 

Die Marquise von O. Fassung von Deborah Epstein nach der Novelle von Heinrich von Kleist.

Schauspiel.

Deborah Epstein, Florian Barth. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. November 2021.

 

> Wenn die Jury des Berliner Theatertreffens nicht ganz vernagelt ist, steigt sie diesen Winter in Zürich auf die Jurasüdfusslinie um (IC 5) und setzt sich in Biel oder Solothurn in eines der entzückenden kleinen Stadttheater. Dort wird das Schauspiel geleitet von einer Frau (!), und das seit 15 Jahren (!). Ihren Namen Katharina Rupp sollte man, wenn es in der Theaterwelt mit rechten Dingen zuginge, in Berlin ohnehin schon längst kennen. In Biel und Solothurn läuft jetzt, dem Trend gemäss, die "Fassung" (!) einer berühmten Frauengeschichte (!), welche eine Frau (!) erarbeitet und inszeniert hat: Deborah Epstein. Damit ist das Reglement für die Einladung erfüllt. In der "Marquise von O." beschreibt zwar ein Mann, aber immerhin Heinrich von Kleist (!), die ungewollte Schwangerschaft einer Frau (!), und die Darstellerin (!) Antonia Scharl spielt das Drama der Entwürdigung so lebensvoll und nachvollziehbar, dass die Jury nicht um den Schluss herumkommen wird: Vergessen wir die Vorurteile! Die Provinz findet sich weder an der Aare noch an der Spree. Sie befindet sich, wenn schon, in den Köpfen. <

 

Für seine "Geschichte der deutschen Literatur" behielt der Reclam-Verlag zwar das traditionelle Taschenbuchformat bei. Doch die Bände, jeder zwischen 750 und 900 Seiten dick, konnten aus Stabilitätsgründen nicht mehr in Halbkarton eingeschlagen werden, sondern verlangten eine feste Bindung aus grünem Leinen. Mit dieser Änderung bewies der grosse Literaturverlag einmal mehr weise Voraussicht. Denn Werner Kohlschmidts Darstellung erreichte bald klassischen Rang.

 

Heute noch, ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen, werden die Bände konsultiert. Ältere, gebildete Leser schätzen deren trockenen Witz und lakonische Urteilsweise. Und der Literatur­professor Hans Jürg Lüthi sagte: "Seit Kohlschmidts Werk herausgekommen ist, habe ich keine Literaturgeschichte mehr vorgetragen, sondern nur noch auf die Reclam-Bände verwiesen."

 

Einmalig ist schon Werner Kohlschmidts Vorgangsweise. Nachdem er sich ein ganzes Professorenleben lang mit den Autoren und Werken beschäftigt hatte, die er beschrieb, vermerkte er, fünf Jahre nach der Emeritierung, im Vorwort zu Band III "von der Romantik bis zum späten Goethe": "Wiederum stützt sich die Darstellung der historischen Zusammenhänge stark auf die Interpretation der Quellen selber und ist nicht aus zweiter Hand gearbeitet worden. Wiederum ist auch die literarische Wertung nicht vermieden."

 

Als Probe für Kohlschmidts kaustischen Stil kann seine Charakterisierung von Kleists "Erzählkunst" dienen:

 

Kleists Novellen stehen in der deutschen Erzähltradition individuell, im eigentlichen Sinne unnachahmlich da, obwohl ihr Stil in der Moderne Nachahmung gefunden hat. Ihre Eigentümlichkeit ist nicht ganz leicht zu fixieren. Kleist schreibt eine Prosasprache, die gleichsam geballt von Sachlichkeit ist. Bei historischen Stoffen z. B. weicht er nicht wie so viele Romantiker in die Naivität des Chronikstils aus. Es geht ihm allein um konzentrierte Darstellung der Begebenheit. Dabei bekommt sein Stil (der deutlich auf das Ende mit seiner Katastrophe zielt) an Höhepunkten den Charakter eines reissenden Tempos, ohne jede schwärmerische Bewegtheit. Wie später (unter anderen Umständen) Kafka macht er Elemente der Kanzleisprache, sozusagen beabsichtigte Trockenheit, der Sachlichkeit der Darstellung dienstbar (z. B. das häufige "dergestalt dass ..."). Der Leser wird gleichsam angesprungen von der inneren Logik der Fakten, einer Unsentimentalität des puren Erzählens, die mit der stilisierten Sachlichkeit von Goethes Novellenstil nicht mehr zu vergleichen ist.

 

So einfach, wie eben dargestellt, verhält es sich aber im einzelnen nicht. In jedem Falle arbeitet Kleists Phantasie ein psychologisches, wenn nicht parapsychologisches Problem mit ein. In der "Marquise von O." ist es die tiefverletzte Subjektivität der Frauenseele, die den versöhnenden Schluss, die Ehe mit dem Sünder, fast unmöglich macht. ... Vergleichen wir aber dies mit dem "Marionettentheater", so zeigt sich das Theater des Lebens gleichsam als dessen Anwendung in der Umkehrung. Geblieben ist nicht die Grazie, nirgends in Kleists Erzählungen, aber die handelnden und leidenden Menschen lassen sich in entscheidenden Augen­blicken gerade nicht vom Bewusstsein bestimmen. Damit rückt Kleist unter den Aspekt jener Romantik der Nachtseite der Natur und der Seelenlehre des Unbewussten, den ihm Gotthilf Heinrich Schubert und auch E. T. A. Hoffmann vermittelt haben.

 

Kleists grosse Prosa hat nun Deborah Epstein "für die Bühne bearbeitet". Die 66-jährige Regisseurin hat eine lange Erfahrung mit der Umsetzung von Literatur aufs Theater. In Biel-Solothurn z. B. verwirklichte sie in den letzten zehn Jahren eine Reihe von Projekten, mit denen sie die Prosa eines Marcel Proust, eines Robert Walser oder eines Peter Bichsel experimentell erkundete, stets unter Beizug der avanciertesten Veranstaltungs- und Übertragungstechniken. Sie führte damit Ensemble und Publikum an ihre Grenzen, aber (und hier liegt das Bemerkenswerte) sie erweiterte sie auch, dergestalt, dass die angesehenen Literaturredaktoren Roman Bucheli und Charles Linsmayer von Zürich her anreisten und die Premieren von Biel und Solothurn in ihren Spalten würdigten; der eine in der NZZ, der andere im "Bund".

 

Der lange Weg übers Experimentelle und Ausgefal­lene kommt nun Deborah Epsteins Bearbeitung der "Marquise von O." in künstlerisch überwältigendem Mass zugute, und die Inszenierung wird für die erfahrene Theaterfrau gleichzeitig Ernte und Krönung ihrer Anstrengungen. "Ihre Eigentümlichkeit ist", um Kohlschmidt aufzunehmen, "nicht ganz leicht zu fixieren". Sie liegt im vollendeten Takt, mit dem sie die dramaturgischen Elemente behandelt, und in der "individuellen, im eigentlichen Sinne unnachahmlichen" Weise, Kleists Prosa auf der Bühne und durch die Bühne zum Sprechen zu bringen. Das gelingt der Regisseurin, um's auf einen einfachen Begriff zu bringen, durch das Mittel der Mischung: Mischung von Erzählung und Darstellung, Mischung von Tragik und Komik, Mischung von Realität und Surrealität.

 

Der Kommandant stand in der Stube und weinte. Hierauf erhob sich die Marquise, umarmte den Kommandanten, und bat ihn, sich zu beruhigen. Sie weinte selbst heftig. Sie fragte ihn, ob er sich nicht setzen wolle? Sie wollte ihn auf einen Sessel niederziehen; sie schob ihm einen Sessel hin, damit er sich darauf setze: doch er antwortete nicht; er war nicht von der Stelle zu bringen; er setzte sich auch nicht, und stand bloss, das Gesicht tief zur Erde gebeugt, und weinte.

 

Ausinszeniert, von den Beteiligten gleichzeitig im Kleiststil gesprochen und dramatisch gespielt, laufen an dieser Stelle Elend, Lächerlichkeit, Groteske und Komik nebeneinander parallel. "So einfach, wie eben dargestellt, verhält es sich aber im einzelnen nicht." Neben der Mehrschichtigkeit in der Fläche der gegenwärtigen Handlung läuft ja auch die Mehrschichtigkeit in der Tiefe ab: Das Trauma der brutalen Schwängerung und das, was der verruchte Akt in der Seele des Mannes, der ihn beging, und der Frau, die ihm zum Opfer fiel, bewirkt.

 

Deborah Epstein und ihr langjähriger Regiepartner Florian Barth, der auch für Bühne, Kostüme, Video und Sounddesign zeichnet, fassen nun die "unerhörte Begebenheit" in einen szenischen Rahmen vom Feinsten. Sie zitieren das 18. Jahrhundert mit allen Mitteln, welche das Theater zur Anwendung bringen kann (Kostüme, Perücken, Interieurs, Requisiten, Klang, Schrift und ein paar allerliebste Kinderdarsteller) und gleichzeitig stellen sie die Darstellung in einen grossen, überlegenen Kunstzusammenhang, der sich daran manifestiert, dass die Bühne durch Video, klug eingesetzte Umbaupausen, Brechung der Erzählung, Überblendung von Sache und Bild in mehreren Dimensionen gleichzeitig spricht. Mit dieser Vorgangsweise ergibt sich die "individuelle, im eigentlichen Sinne unnachahmliche" Qualität des Abends durch ein freies und gleichrangiges Zusammenspiel aller Elemente – der belebten wie der unbelebten.

 

Antonia Scharl als Marquise von O.: Tausend Facetten, zusammengebunden durch das doppelte Geheimnis des Unbewussten und des Unaussprechlichen, welches Kleist erst im letzten Satz enthüllt: "Da der Graf, in einer glücklichen Stunde, seine Frau einst fragte, warum sie vor ihm, gleich einem Teufel, geflohen wäre, antwortete sie, indem sie ihm um den Hals fiel: er würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre." – Matthias Schoch als Graf F... "schön, wie ein junger Gott, ein wenig bleich im Gesicht", doch züchtig, vornehm, beherrscht, wenn auch angetrieben von einer inneren Glut. – Barbara Grimm, die Mutter der Marquise, praktisch, mit Bodenhaftung, und mit der Fähigkeit der Selbstüberwindung: "Die Tage meines Lebens nicht mehr von deiner Seite weich ich. Ich biete der ganzen Welt Trotz." – Günter Baumann, Obrist, Vater der Marquise: "Da der Obrist das Landleben nicht liebte, so bezog die Familie ein Haus in der Stadt, und richtete sich dasselbe zu einer immerwährenden Wohnung ein. Alles kehrte nun in die alte Ordnung der Dinge zurück." – Simon Rusch als Forstmeister, General und Arzt: "Der Arzt warf einen forschen­den Blick auf sie; schwieg noch, nachdem er eine genaue Untersuchung vollendet hatte, eine Zeitlang: und antwortete dann mit einer sehr ernsthaften Miene, dass die Frau Marquise ganz gesund sei, und keinen Arzt brauche". – Maris Urosevic als Erzähler, Diener und Hebamme: "In M..., einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, liess die verwitwete Marquise von O..., eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitungen bekannt machen: dass sie, ohne ihr Wissen, in andere Umstände gekommen sei, dass der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle; und dass sie, aus Familienrücksichten, ent­schlos­sen wäre, ihn zu heiraten."

 

"Die Marquise von O." an den Theatern von Biel und Solothurn: in der Mischung liegt das Geheimnis. Die Schauspieler verschmelzen mit der Rolle. Die Bühne verschmilzt mit dem Stoff. Die Gegenwart verschmilzt mit der Vergangenheit. Die Fiktion verschmilzt mit der Wahrheit. Das Spiel verschmilzt mit der Kunst.

 

Ein unvergesslicher Abend.

 

"Die Marquise von O. liess durch die Zeitungen bekannt machen ... 

... dass sie ohne ihr Wissen in andere Umstände gekommen sei."

"Der Kommandant stand in der Stube. Die Marquise bat ihn, sich zu beruhigen."

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