Wie ein Insekt, das die Welt erkundet. © Annette Boutellier.

 

 

Kaspar. Peter Handke.

Schauspiel.

Mathias Spaan, Anna Armann. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 26. September 2021.

 

> "Kaspar", das klassische Sprachskepsis-Stück von Peter Handke, zeigt, wie jemand durch Rede zurechtgerichtet, ja zugerichtet wird. Vor fünfzig Jahren machte es Sensation, weil es den Duktus der Hausordnungen, der Reglemente und des gesitteten Umgangs in seiner manipulativen Unmenschlichkeit klar und wahrhaftig blossstellte. Nun zeichnen die Bühnen Bern diese "Sprechfolterung" mit Ernst und Genauigkeit nach. Dabei erweist sich der Spracherwerb nicht als Bereicherung, sondern als Ich-Verlust. Schön und gut. Aber ist das nicht eine "alte Geschichte, längst vergessen, längst verschmerzt" (Kafka)? Anderseits: Was kommt heraus, wenn wir das Stück auf unsere Zeit richten? Bei den gendergerechten Sprachregelungen und Woke geht es doch letzten Endes auch ums Zurechtrücken und Zurichten von Wirklichkeitskonzepten, Gedanken und Auffassungsweisen. Mein Gott! Bedeutet das etwa, dass wir uns durch "Kaspar" in unserem Gut- und Bessermeinen gleich in Frage stellen lassen müssen wie seinerzeit unsere Eltern und Grosseltern? Ein schlimmer Gedanke. Weg mit ihm! Wir sind weiter! Wir sind fehlerfrei! <

 

Die Krux beim Gedankenflächentheater ist, dass es bald einmal langweilig wird, sobald man sein Thema begriffen hat. Bei "Kaspar" geht es um die "Manipulierbarkeit des einzelnen durch die öffentlich verordnete Sprache" (Botho Strauss). Die Handlung "zeigt, wie jemand durch Sprechen zum Sprechen gebracht werden kann. Das Stück könnte auch 'Sprechfolterung' heissen" (Peter Handke).

 

In den Regieanweisungen sagt Handke:

 

Die Sätze passen sich zuerst in ihrer Bewegung den Bewegungen Kaspars an, bis sich Kaspars Bewegungen allmählich ihrer Bewegung anpassen. Die Sätze verdeutlichen die Vorgänge auf der Bühne, ohne sie freilich zu beschreiben. Es stehen folgende Sätze zur Auswahl:

 

Von Geburt an ist allen eine Fülle von Fähigkeiten gegeben.

 

Jeder ist für seinen Fortschritt verantwortlich.

 

Jeder Gegenstand, der schadet, wird unschädlich gemacht.

 

Jeder stellt sich in den Dienst der Sache. Jeder sagt ja zu sich selber.

 

Wenn die Sprache "jeder" sagt, meint sie "jedes Ich". Doch wenn sie jedes Ich meint, kommt es ihr nicht aufs einzelne Ich an, sondern auf das, was alle Ichs gemeinsam haben, beziehungsweise gemeinsam tun. Also Normierung.

 

Damit gibt es in der Sprache – und vielleicht auch in der Wirklichkeit – kein eigentliches Ich. Keines jedenfalls, das unverwechselbar ist und sich autonom definiert hat. 1968, als Handke "Kaspar" schrieb, wurde das Wort "Fremdbestimmung" geprägt. Und das Stück lief aufs Fazit hinaus: "Ich: bin: nur: zufällig: ich."

 

Peter Handke hat den Satz nicht in die späteren Ausgaben des Stücks übernommen. Er hat mithin das Ich der Selbsteinsicht gestrichen, das sich dadurch erfasst, dass es sich als geworfen erkennt. Unangetastet aber blieb Kaspars Eingangssatz: "Ich möcht ein solcher werden, wie einmal ein andrer gewesen ist." Das heisst: Ich werde im Lauf der Zeit ein anderer. Je est un autre.

 

Das Stück spiegelt die Problemlage. Und die Aufführung spiegelt die Problemlage und das Stück. Im Lauf des Spiels zitiert sie nämlich ein paarmal die Regieanweisung: "Das Stück 'Kaspar' zeigt nicht, wie ES WIRKLICH IST oder WIRKLICH WAR mit Kaspar Hauser. Es zeigt, was MÖGLICH ist mit jemandem."

 

Regisseur Mathias Spaan macht also kein Illusionstheater. Er bringt keine Realitätsabbildung. Sondern er veranstaltet seine Inszenierung als Theater im Theater (die Schauspieler werden aufgerufen und geschminkt, die Bühnenarbeiter richten die Szene her), wodurch er den Vorgang der Sprachsozialisation blosslegt und im Spielen erkundet. Aber nicht im Licht des Idealismus (Sprache als Mittel der [Selbst-]Erkenntnis), sondern im Licht der Gesellschaftskritik, wie von Handke verlangt:

 

Die Pausentexte sind zusammengesetzt aus Bandaufnahmen der Einsager, Geräuscheinschüben, Originalaufnahmen von echten Parteiführern, Päpsten, öffentlichen Sprechern jeder Art, auch von Staats- und Ministerpräsidenten, vielleicht auch von echten Dichtern, die zu Anlässen sprechen.

 

Die Bühne von Anna Armann stellt ein System von Spielflächen zur Verfügung, die Farbe und Abwechslung ermöglichen. Durch sie bewegt sich Claudius Körber wie ein Insekt, das die Welt erkundet, und an seinen Bewegungen lässt sich ablesen, was in ihm abläuft, bis die Transparenz der inneren Vorgänge durch die Wortaufschüttung der Einsager Stéphane Maeder, Viet Anh Alexander Tran und Genet Zegay verlorengeht. (Der Begriff "Wortaufschüttung" stammt von Paul Celan und transportiert die Assoziation "Wortschutt" mit.)

 

Die Vorstellung dauert knappe anderthalb Stunden. Im Rückblick erinnert sie mich an die letzte Handke-Premiere, die ich gesehen habe: "Publikumsbeschimpfung" am Akademietheater Wien. Ein angesehener Kollege murmelte damals beim Hinausgehen: "So. Das wäre nun auch abgehakt."

 

Bei "Kaspar" in Bern ging es mir gleich. Und mit Schrecken stelle ich mir die Frage: Ist das eine naheliegende Reaktion auf Handke? Oder ein Alterszeichen?

 

Die normierte Sprache unseres Alltags ... 

... eingedrillt durch Stimmen ... 

... und vorgeführt als Theater im Theater. 

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